18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Rücktritt – der falsche Adressat

von Sarcasticus

„Ausspionieren unter Freunden,
das geht gar nicht.“
(Angela Merkel
im Jahre 2013, als es ihr Handy betraf)

Ausspionieren unter Freunden
mit wissender Duldung des Kanzleramtes,
das geht offenbar sehr wohl.
(Vorläufiges Fazit
im NSA-BND-Skandal)

Nicht dass es bisher an hinreichenden Gründen und Anlässen gemangelt hätte, Thomas de Maizière zum Rücktritt aufzufordern, und von einem Politiker alter Schule, als der sich dieser mit Abstand distinguierteste aller Aktendullis aus Merkels Entourage ein ums andere Mal geriert, zu erwarten, dass er auch tatsächlich demissioniert. Euro-Hawk-Debakel und G36-Affäre in seiner Zeit als Verteidigungsminister oder seit 2013 als nunmehr wieder Innenminister sein nur vordergründig cleveres Agieren in Sachen Vorratsdatenspeicherung und seine humanismusfreien Einlassungen zur Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer – Behördenchefs sind schon wegen geringerer Verfehlungen zum Amtsverzicht genötigt worden. Die aktuellen Forderungen jedoch, er müsse seinen Hut nehmen, weil er im Kontext der jüngsten Volte im NSA-BND-Skandal das Parlament belogen habe, nehmen den Falschen aufs Korn.
Was war passiert?
Mit der Bundestagsdrucksache 18/4637 vom 16. April hatte das Innenministerium auf eine parlamentarische Anfrage von Linksparteiabgeordneten mitgeteilt: „Es liegen weiterhin keine Erkenntnisse zu angeblicher Wirtschaftsspionage durch die NSA […] vor.“
Bereits am 12. März aber, also vier Wochen vorher, hatte BND-Chef Gerhard Schindler im Kanzleramt gebeichtet, dass von BND-Mitarbeitern in Bad Aibling bereits seit Jahren tausende von der NSA vorgegebene Suchbegriffe für die elektronische Ausspähung, sogenannte Selektoren (IP-Adressen, Mobilfunknummern, Mail-Adressen und ähnliches), als regelwidrig aussortiert worden waren. Wie bisher auch das Kanzleramt nicht dementiert hat, bestand die Regelwidrigkeit darin, dass der BND nicht nur nach ausländischen Personen und Organisationen mit potenziell terroristischem Hintergrund spähen sollte, sondern auch nach europäischen Rüstungskonzernen wie EADS und Eurocopter, nach französischen Behörden, nach EU-Institutionen et cetera. Das läuft auf Wirtschafts- und auf politische Spionage im Interesse der Amerikaner hinaus.
Nicht dass der BND dieses Ansinnen völlig klaglos hingenommen hätte. Im Gegenteil – seit 2002 sollen stillschweigend über 40.000 solcher Selektoren ausgemustert worden sein. Aber nach wie vielen davon zuvor bereits gespäht worden war und Ergebnisse zur NSA gelangt sind, ist zurzeit völlig offen. Es können jedoch nicht nur Peanuts gewesen sein, denn nach Snowdens Enthüllungen 2013 hat ein BND-Sachbearbeiter die NSA-Suchdatei nochmals nach „Bestandteilen von E-Mail-Adressen durchsucht, die Diplomaten, Behörden und Regierungen in Deutschland nutzen“, so ZEIT ONLINE am 1. Mai 2015. Er wurde fündig – 12.000 Mal. Damit kann Zweifel daran, dass der BND sich von der NSA auch dafür hat einspannen lassen, nichtterroristische Ziele selbst in Deutschland auszuspähen, nicht mehr ernsthaft erhoben werden.
Man weiß inzwischen auch, dass schriftliche Kunde vom BND über das illegale Gebaren der NSA bereits 2008 und 2010 ins Kanzleramt gelangt war. Ohne Reaktion seitens der dort liegenden Fach- und Dienstaufsicht: Der BND ist dem Kanzleramt bekanntlich direkt unterstellt. Schlamperei? Wohlwollende Ignoranz aus Nibelungentreue Washington gegenüber? Bewusstes Wegsehen, um die Bündnisführungsmacht nicht zu vergrätzen? Darüber darf noch spekuliert werden.
Nicht so jedoch über den Fauxpas vom 16. April: Wenn de Maizières Ressort bei seiner Auskunft gelogen hat, dann hat das Kanzleramt diese Lüge wissentlich durchgehen lassen, denn solche sensiblen Erklärungen werden zwischen den verantwortlichen Bereichen der Bundesregierung stets minutiös abgestimmt, ja geradezu choreographiert.
Welche Bombe da tickt, lässt sich daran ermessen, dass Steffen Seibert, der Sprecher der Kanzlerin, de Maizière umgehend Absolution erteilte, als der Vorwurf der Lüge durch die Medien rauschte. Seibert erklärte am 29. April: „Die Behauptung, die Bundesregierung habe die Unwahrheit gesagt, weise ich ausdrücklich zurück.“ Und: „Wir informieren das Parlament immer nach bestem Wissen und Gewissen.“ Das gelte für alle Anfragen aus dem Bundestag; Grundlage sei stets – und hier öffnet sich allerdings das Hintertürchen – der jeweilige Erkenntnisstand zum Zeitpunkt der Anfrage. Soll ja wohl heißen, wenn man zum Zeitpunkt der Auskunft dann Gegenteiliges weiß, aber nicht äußert, ist das keine Lüge. Vielleicht sollten Seibert & Co. gleich auch noch die Hände vors Gesicht schlagen, um gar nicht mehr gesehen zu werden…

*

Vorgeschichte, Hintergründe: In Bad Aibling, wenige Kilometer südöstlich von München, steht eine der leistungsfähigsten Satellitenaufklärungsanlagen der Welt – errichtet von den USA im Kalten Krieg, jahrzehntelang betrieben von der NSA.
Die Anlage geriet Ende der 1990er Jahre in Verdacht, als Bestandteil des umfassenderen amerikanischen Überwachungssystems Echelon auch zur Wirtschaftsspionage gegen die europäische Konkurrenz verwendet zu werden. Damals mühte sich ein EU-Sonderausschuss, dies aufzuklären, doch die Aktion versandete nach 9/11 sang- und klanglos. Und dass obwohl im Jahre 2000 der ehemalige CIA-Direktor James Woolsey mit einem gewissen Stolz bekannt hatte: „Ja, meine kontinentaleuropäischen Freunde, wir haben euch ausspioniert.“
Vor 9/11 hatte Bad Aibling daher die Schließung gedroht; danach wurde unter federführender Mitwirkung des Kanzleramtes – dessen Chef war seinerzeit Frank-Walter Steinmeier – ein Deal vereinbart: Die Anlage ging kostenfrei an den BND, und der liefert im Gegenzug seither den Amerikanern zu – nämlich alles, was zu den von der NSA vorgegebenen Selektoren so anfällt. Von Bad Aibling aus werden 13 Kommunikationssatelliten abgehört, 6.500 Rohdaten werden pro Sekunde erfasst, 1,3 Milliarden per anno (Stand 2013).
In dem entsprechenden „Memorandum of Agreement“ vom 28. April 2002 – einem sechsseitigen Dokument mit 70 Seiten Anhang, das die Einzelheiten der klandestinen Kooperation regelt, – hatte sich die NSA zugleich verpflichtet, deutsches Recht zu respektieren. Unter anderem sollte verhindert werden, dass auf deutschem Boden Deutsche abgehört werden. Daten von Anschlüssen mit der internationalen Vorwahl 0049 oder Internetadressen mit dem Zusatz „.de“ beispielsweise sollten nicht in amerikanische Hände gelangen. Wahrscheinlich haben sie sich im NSA-Hauptquartier in Fort Meade bereits bei der Vereinbarung des Memorandums schallend auf die Schenkel geschlagen und gewiehert: „Also diese Deutschen mal wieder …“

*

Bei der Information von 2008 des BND ans Kanzleramt über illegale Selektoren der NSA war übrigens auch schon Thomas de Maizière involviert – als damaliger Kanzleramtschef. Der stand seinerzeit kurz vor einer Reise in die USA. In den Medien wurde gemutmaßt, dass die BND-Information von 2008 deswegen in der Ablage verschwand, um die Visite nicht zu belasten.
Den Vorgang selbst wie den gesamten NSA-BND-Skandal nur als Versagen der Aufsicht des Kanzleramtes über den Bundesnachrichtendienst, wenn auch als ein klägliches, einzustufen, wie SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi das jetzt getan hat, greift zu kurz. Der BND-Experte und Blättchen-Autor Erich Schmidt-Eenboom stufte das elektronische Schnüffeln des BND nach amerikanischer Selektoren-Vorgabe im ZDF vielmehr generell als „Agentenätigkeit im Dienste einer fremden Macht“ ein, und das sei ein deutscher Straftatbestand. Der hat, soweit dabei auch „Recherche“-Ergebnisse über deutsche Bürger, Unternehmen und Institutionen an die NSA weitergereicht wurden, einen alt-ehrwürdigen Namen, den der Anwalt Gregor Gysi in der aktuellen Debatte bereits aufgerufen hat: Landesverrat. Der Verdacht, dass der BND sich unter der Aufsicht des Kanzleramtes seit 9/11 quasi verselbständigt und systematisch deutsches Recht gebrochen hat, steht im Raum. Der Generalbundesanwalt prüft inzwischen, „ob ein Anfangsverdacht für eine in unsere Zuständigkeit fallende Straftat vorliegt“.
Und die politische Verantwortung?
Der Kanzleramtsminister, wer immer es auch sei, ist kein Minister wie jeder andere, der relativ eigenständig und weisungsunabhängig seine Behörde führt. Er leitet das Haus der Kanzlerin. Sie ist die Hausherrin dieser Behörde und trägt schlussendlich die Verantwortung dafür, was in ihrem Laden vorgeht und was unter der Aufsicht desselben eben auch schief läuft.
Ihr jetziger Versuch jedenfalls, allein den BND in den Regen zu stellen, weil der über die illegalen Selektoren der NSA erst jetzt informiert habe, ging glatt in die Hose. Am 23. April hatte die Bundeskanzlerin ihren getreuen Seibert erklären lassen: „Im Rahmen der Dienst- und Fachaufsicht hat das Bundeskanzleramt technische und organisatorische Defizite beim BND identifiziert. Das Bundeskanzleramt hat unverzüglich Weisung erteilt, diese zu beheben.“ Eine bisher beispiellose öffentliche Desavouierung des Dienstes durch das Kanzleramt. Doch Pech für die Kuh Elsa: Kurz darauf wurde der Sachverhalt der BND-Informationen von 2008 und 2010 ans Kanzleramt publik.
Ihren Behördenchef kann die Bundeskanzlerin im Falle von Verfehlungen im Übrigen jederzeit feuern. Doch für Forderungen nach Rücktritt wegen der politischen Verantwortung für die Causa als solche lautet die einzig richtige Adresse – Angela Merkel.