18. Jahrgang | Nummer 9 | 27. April 2015

Atomare Abschreckung – oder: das hirnrissige Spiel mit der Apokalypse

von Wolfgang Schwarz

Kernwaffen sind die mit Abstand unsinnigste militärische Manifestation des menschlichen Erfindungsgeistes. Bisher jedenfalls. Sie zeugen zugleich von einer grundsätzlichen Unfähigkeit der Gattung Homo sapiens, selbst potenziell selbstmörderische Konsequenzen dieses Erfindungsgeistes in angemessener Weise zu antizipieren und durch Unterlassen zu vermeiden.
Kernwaffen können von ihren Besitzern nicht gegeneinander eingesetzt werden, da diese damit die eigene Vernichtung per Gegenschlag riskierten. Das hatte bereits Bernhard Brodie, einer der intellektuellen Väter der Theorie der nuklearen Abschreckung erkannt. In seiner frühen, 1946 erschienenen Arbeit „The Absolute Weapon: Atomic Power and World Order“ stellte er den fundamentalen Unterschied der Bombe im Verhältnis zu allen bisherigen Militärtechnologien dahingehend heraus, dass die neue Waffe jegliche Verteidigung gegen sie unmöglich mache. An diesem Grundsachverhalt hat sich trotz aller, insbesondere amerikanischer Versuche, ihn strategietheoretisch und technologisch außer Kraft zu setzen, bis heute nichts geändert. Unter den Atommächten gilt, seit die Sowjetunion das Unverwundbarkeitsmonopol der USA durch Einführung ballistischer Interkontinentalraketen irreversibel beseitigt hat: „Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.“ Diese Gegebenheit bringt das Akronym MAD (englisch auch: verrückt) auf den Punkt – Mutual Assured Destruction, gegenseitig gesicherte Vernichtung.
Darüber hinaus können Kernwaffen im Verhältnis zu anderen Nuklearmächten nicht einmal politisch wirkungsvoll instrumentiert werden, wie dies der russische Präsident Putin im Nachklang der Krim-Annexion gerade versucht hat. Denn machte er Ernst, drohte Russland eine vernichtende Antwort unter Umständen gleich mehrerer atomarer Gegner. Allerdings bleibt Putins Drohung nur so lange eine leere Drohung, wie man ihm rationales Verhalten unterstellt. Handelte er irrational, wäre alles denkbar, auch die Inkaufnahme der eigenen Vernichtung und großer Teile der übrigen Welt. Das meinte der amerikanische Publizist Leon Wieseltier, als er schon vor über 30 Jahren zu dem Fazit gelangte: „[…] Abschreckung ist wahrscheinlich das einzige politische Konzept, das total versagt, wenn es nur zu 99,9 Prozent erfolgreich ist.“
Hinzu kommt, dass Kernwaffen auch in militärischen Konflikten mit nichtatomaren Gegnern völlig unbrauchbar sind. Man mag zwar darüber spekulieren, warum die USA keinen Gebrauch von ihren atomaren Mitteln gemacht haben, als sich in der Anfangsphase des Korea-Krieges eine Niederlage des Südens und seiner amerikanischen Verbündeten abzeichnete. Die unmittelbare Gefahr einer Konfrontation mit der Sowjetunion bestand seinerzeit nicht, und die USA selbst waren noch atomar unverwundbar. Allerdings hatte das US-Militär die alle bisherigen Maßstäbe weit überschreitende Wirkung von Atomwaffen und auch die radiologischen Folgewirkungen für Überlebende in Hiroshima und Nagasaki eingehend untersucht … Fakt ist, dass der US-Oberbefehlshaber in Korea, McArthur, als er den Einsatz von Atomwaffen forderte, abgelöst wurde.
Später zeigte sich, dass in sogenannten asymmetrischen Kriegen gegen militärisch deutlich unterlegene Gegner selbst der Status einer nuklearen Supermacht keinerlei Handhabe bietet, Niederlagen zu verhindern: Die Kriege in Indochina (USA) und in Afghanistan (UdSSR) wurden verloren.
Seit Mitte der 1980er Jahre weiß man überdies, das gehäufter Kernwaffeneinsatz insbesondere gegen Bodenziele riesige Mengen an Erde-, Staub-, Asche- und Rußpartikeln aufwirbeln und durch die Zirkulationsprozesse in der Atmosphäre global verbreiten, wodurch ein signifikanter Teil des Sonnenlichtes absorbiert würde. Es käme zu einer länger anhaltenden, regional zwar unterschiedliche, aber in jedem Fall großflächig katastrophalen Abkühlung an der Erdoberfläche mit weitreichenden, wenn nicht existenziellen Konsequenzen für höhere Lebensformen. Das Phänomen wurde nuklearer Winter getauft. Um einen solchen auszulösen, so ergaben seinerzeit Untersuchungen amerikanischer Wissenschaftler um Carl Sagan und andere, hätte beim Einsatz gegen Städte schon ein sehr geringer Prozentsatz der damals weltweit vorhandenen nuklearen Sprengkraft genügt. Unter welchem Damoklesschwert die Welt damit lebte, wird dadurch offenbar, dass während des Kalten Krieges lange Zeit „sämtliche der 200 größten sowjetischen Städte und 80 Prozent aller 886 sowjetischen Städte mit einer Bevölkerung von mehr als 25.000 Menschen“ Bestandteil der nuklearen Zielplanung der USA waren. Letzteres konnte man 1983 der Untersuchung „Targeting for Strategic Deterrence“ des australischen Experten Desmond Ball in der Reihe Adelphi Papers des Londoner Instituts für Strategische Studien (IISS) entnehmen. Die sowjetische Zielplanung dürfte in diesen Zeiten wenig treffgenauer, zur Ausschaltung gehärteter militärischer Punktziele (Raketensilos, verbunkerte Kommandoeinrichtungen) noch ungeeigneter ballistischer Trägersysteme ähnlich strukturiert gewesen sein.
Heute gehen Experten zwar davon aus, dass Kernwaffen zwischen den Supermächten im Falle des Falles vorwiegend gegen militärische Ziele eingesetzt würden. Worauf allerdings die Sprengköpfe der anderen Atommächte zielen, ist unbekannt. Zumindest bei denen, deren Trägersysteme nach wie vor über keine hohe Treffsicherheit verfügen (China, Indien, Pakistan, Nordkorea), muss jedoch weiterhin von Flächenzielen mit höchst möglichem Schadenspotenzial ausgegangen werden. Das sind in erster Linie städtische Ballungszentren.
Neueste Forschungsergebnisse in diesem Zusammenhang wurden erst jüngst wieder auf der Wiener Konferenz über die humanitären Auswirkungen von Nuklearwaffen im Dezember 2014 vorgestellt. 158 Staaten hatten Delegationen entsandt, dazu internationale Organisationen und NGOs. Alexander Kmentt, Leiter der Abteilung für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nonproliferation im österreichischen Außenministerium, fasste in einem „Der pragmatische Realismus des Wahnsinns“ betitelten Beitrag in IPG. Internationale Politik und Gesellschaft zusammen: „So wurden Studien präsentiert, die verdeutlichen, dass die Auswirkungen von Nuklearwaffenexplosionen wesentlich gravierender und komplexer wären als bislang weitläufig bekannt war. Bei der Konferenz in Wien wurden etwa die Auswirkungen der Explosion einer einzelnen 200 Kilotonnen Atombombe über der NATO-Basis in Aviano in Norditalien präsentiert. Neben der unmittelbaren humanitären Katastrophe ergibt sich auch, je nach Wind, innerhalb weniger Stunden eine grenzüberschreitende radioaktive Todes- oder Evakuierungszone die über weite Teile Österreichs, bis über Tschechien hinaus reicht. Neueste Klimastudien zeigen auch, dass die langfristigen Auswirkungen von Nuklearwaffenexplosionen über die auf die 1980er Jahre zurückgehenden Annahmen eines ‚nuklearen Winters‘ hinausgehen. Selbst ein sogenannter ‚limitierter Atomkrieg‘, wie er etwa für ein hypothetisches Szenario zwischen Indien und Pakistan berechnet wurde, ergibt die Gefahr eines dramatischen globalen Temperaturabfalls mit schwerwiegenden Einbrüchen der Nahrungsmittelproduktion. Weltweite Hungersnöte, Flüchtlingsbewegungen, der Zusammenbruch der globalen Wirtschaft und der sozialen Ordnung wären die Folge. Humanitären Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Rotkreuzbewegung bestätigen, dass es keine Kapazitäten gibt, in solchen Szenarien adäquate Hilfe zu leisten.“
Dass die atomare Apokalypse bisher nicht stattgefunden hat, kann leider nicht als Garantie dafür herhalten, dass sie ein für alle Mal ausgeschlossen ist. Während des Kalten Krieges stand die Welt mehrfach am Rande eines Nuklearkrieges. In der Kuba-Krise von 1962 ebenso wie bei einem Fehlalarm im sowjetischen Frühwarnsystem am 25. September 1983, als im Kontrollzentrum Serpuchow-15 nahe Moskau anfliegende US-Interkontinentalraketen auf dem Schirm erschienen, sowie kurz darauf während des NATO-Manövers Abel Archer, um nur einige Beispiele zu nennen. Und längst birgt nicht zuletzt auch die Feindschaft zwischen Indien und Pakistan, die sich seit Jahrzehnten im Konflikt um die Region Kaschmir befinden und dort mehrere Kriege gegeneinander geführt und zahllose militärische Zusammenstöße provoziert haben, ein Atomkriegsrisiko in sich. Das bestätigte zum Beispiel im Jahre 2005 der damalige Botschafter Pakistans in Washington und frühere pakistanische Generalstabschef, J. Karamat, als er erklärte, „dass die indisch-pakistanischen Konfrontationen in den Jahren 1987, 1990 und 2002 sowie der Kargil-Konflikt 1999 sämtlich über eine nukleare Dimension verfügten“. 2002 konnte, wie Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) öffentlich machte, „die Gefahr einer nuklearen Eskalation […] erst durch diplomatische Interventionen der USA und Großbritanniens entschärft werden“.
Sicher hat in den jeweiligen Fällen immer auch das rationale Agieren involvierter Verantwortungsträger dazu beigetragen, das Schlimmste zu verhindern. Allerdings sollte man dabei auch das Resümee im Hinterkopf haben, das einer der zu seiner Zeit entscheidenden Akteure in der strategischen Befehlskette der USA, Robert McNamara, später zum Ausgang der Kuba-Krise zog: „Wir standen so nah am nuklearen Abgrund. Wir haben den Atomkrieg nicht durch kluges Management verhindert, wir hatten Glück.“
Dafür dürfen wir damals schon Lebendenden und die nachfolgenden Generationen umso dankbarer sein, als für die Verfechter der Konzeption der atomaren Abschreckung die Bereitschaft, Kernwaffen im Falle des Falles tatsächlich einzusetzen, stets die condicio sine qua non dieser Konzeption war. Oder mit den Worten des langjährigen Direktors des Forschungsinstitutes der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Karl Kaiser, in einem Beitrag im Europa-Archiv (1985): Nukleare Abschreckung sei „nur dann funktionsfähig, wenn der Besitz von Kernwaffen mit der Fähigkeit und dem Willen verbunden ist, sie im Notfall auch zu benutzen, also mit der Kriegführungsfähigkeit“.
Kaiser, und er war in dieser Eindeutigkeit weder der Einzige noch der Erste, lieferte damit zugleich einen entscheidenden, wenn nicht den maßgeblichen Grund für die notwendige grundsätzliche Ablehnung des Prinzips der nuklearen Abschreckung: das über die Jahrzehnte immer wieder evidente Streben nach nuklearer Kriegführungsfähigkeit.
Kriegführungsfähigkeit in einem rationalen Sinne dürfte nicht a priori mit zwangsläufigem suizidalem Ausgang verbunden sein, müsste es also ermöglichen, das Risiko der nuklearen Selbstvernichtung in einem Atomkrieg gegen die UdSSR, das seit dem Sputnik-Schock von 1957 besteht, zu vermeiden. Dies erforderte eine Art atomarer Quadratur des Kreises und war seit Ende der 1950er Jahre nicht nur immer wieder ein Thema in den nuklearstrategischen Debatten in den USA, sondern auch Ausgangspunkt für immer neue technologische Entwicklungen im Bereich der strategischen Kernwaffen. Das Ziel: MAD überwinden, den Sieg im Atomkrieg denkbar und den Krieg selbst damit führbar machen.
Das versuchte man zum Beispiel mit strategietheoretischen Konstrukten wie, in der ersten Hälfte der 1960er Jahre, Herman Kahn mit seiner 44-stufigen Eskalationsleiter. Später, als die Treffsicherheit von Interkontinentalraketen zunahm und die USA erst die Technologie der atomaren Mehrfachsprengköpfe (MIRV), dann der steuerbaren Mehrfachsprengköpfe (MARV) einführten, wurden Überlegungen ventiliert, den Gegner durch Überraschungsschlag gegen dessen strategische Waffensysteme (counterforce) zu entwaffnen. Ein Euphemismus dafür lautete pre-emptive strike (zuvorkommender Schlag), denn natürlich war man nicht aggressiv, sondern wollte nur den Angriffsabsichten der Gegenseite einen entscheidenden Schritt voraus sein. Die Details dieser zum Teil hoch artifiziellen, zum Teil bizarren Debatten in der strategic community der USA sind in den ausgezeichneten Monographien von Fred Kaplan (The Wizards of Armageddon, 1983) und Lawrence Freedman (The Evolution of Nuclear Strategy, 2003, 3. Auflage) nachzulesen.
„Madder than MAD“ („Verrückter als gegenseitig gesicherte Vernichtung“) betitelte Leon Wieseltier sein Essay in The New Republic vom 12. Mai 1986, in dem er sich mit dem Versuch der damaligen Reagan-Administration auseinandersetzte, mittels neuartiger, zum Teil Weltraum basierter Raketenabwehrsysteme die MAD-Konstante im Verhältnis zur Sowjetunion außer Kraft zu setzen. Ronald Reagan selbst, von der Profession her Schauspieler, überwiegend in B-Movies, mag ja sogar daran geglaubt haben, dass die USA mit der von ihm 1983 initiierten sogenannten Strategic Defense Initiative (SDI), von den einschlägigen Medien schnell als „Star Wars“ apostrophiert, nukleare Unverwundbarkeit hätten zurückgewinnen können, aber nicht nur aus Moskauer Sicht passte das Projekt eher zu den nuklearstrategischen Gedankenspielen von Colin S. Gray und Keith Payne, die diese unter dem Titel „Victory (in einem Atomkrieg gegen die UdSSR – Ergänzung W.S.) is possible“ 1982 publiziert hatten: Der Gegner sollte durch einen überraschenden nuklearen Enthauptungsschlag gegen seine politischen und militärischen Führungszentren sowie seine strategischen Nuklearstreitkräfte weitgehend vernichtet werden. Die wahrscheinlich trotzdem nicht gänzlich zu verhindernde atomare Vergeltung sollte durch Raketenabwehr und andere Maßnahmen soweit als möglich paralysiert werden. So rückte die finale atomare Auseinandersetzung mit Moskau in der Sicht der Autoren in den Bereich des ins kalkuliert Machbaren.
Natürlich schrillten da in Moskau die Alarmglocken, zumal Gray überdies einen, wenn auch untergeordneten Beraterjob in der Reagan-Administration erhalten hatte. Man bewegte sich in der politischen und militärischen Führung der Sowjetunion ja schon von Anbeginn des militärischen Atomzeitalters an quasi in einer Endlosschleife lediglich reziproken nuklearstrategischen Denkens und Rüstens, die der technologisch und qualitativ immer unterlegenen UdSSR keine andere Chance zu lassen schien, als jeweils möglichst schnell nachzuziehen.
Der Autor nahm in diesem Kontext im Jahre 1986 – zusammen mit dem damaligen Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR (IPW), Max Schmidt – folgende Bewertung vor: „Eine perfekte Raketenabwehr, ein undurchdringlicher Schild (gegen einen Angriff mit hunderten von Trägersystemen und möglicherweise Tausenden von Sprengköpfen – Ergänzung W.S.) ist […] prinzipiell nicht realisierbar.“ Daher könnten Raketenabwehrsysteme „überhaupt nur effektiv sein als […] ergänzender Bestandteil eines […] Offensivpotentials – nicht zur Abwehr eines nuklearen Angriffs, sondern zur […] Paralysierung eines zuvor durch nuklearen Erstschlag reduzierten Zweitschlages […] des Gegners“. Das gilt, angesichts nur marginaler technologischer Fortschritte auf dem Feld der Raketenabwehrtechnologien seit den 1980er Jahren, immer noch – also auch für die heutigen, wieder intensivierten amerikanischen Raketenabwehrentwicklungen und -rüstungen mit ihren Systemen in Alaska, Rumänien, im Mittelmeer oder anderswo.
Amerikanische Theoretiker und Praktiker der nuklearen Kriegführung empfanden und empfinden den Zustand, dass Kernwaffen „völlig nutzlos“ sind „außer zur Abschreckung ihres Einsatzes durch irgendeinen Gegner“ (McNamara), oder „Deterrence Only“, wie es Albert Wohlstetter, jahrzehntelang einer der führenden Köpfe dieser Denkschule, auf den Punkt brachte, als zutiefst unbefriedigend, weil den USA strategische Beschränkungen im Verhältnis zu anderen Nuklearmächten auferlegend. Diesen Kräften ging und geht es darum, den USA offensive Handlungsmöglichkeiten für ihr nuklearstrategisches Arsenal zu erschließen. Daher müsse, wie Payne 1981 programmatisch forderte, eine „den amerikanischen Bedürfnissen angepasste Doktrin […] Konzepte von gegenseitiger Abschreckung beziehungsweise Verwundbarkeit über Bord werfen“.
Als bis dato letzter Versuch in dieser Richtung kann die Nuclear Posture Review der Bush junior-Administration von 2002 gelten. Der Bericht umriss als Zielvorstellung „eine Neue Triade, bestehend aus:
– offensiven Angriffssystemen (sowohl nuklearen als auch nicht-nuklearen);
– Verteidigungssystemen (sowohl aktiven als auch passiven) und
– einer wiederbelebten Verteidigungsinfrastruktur […].
Diese Neue Triade wird vernetzt durch verbesserte Kommando-, Kontroll- […] und Aufklärungssysteme.“
Wie Russland den derzeitigen Stand beim jetzt wieder Hauptgegner USA bewertet, ließ Präsident Putin durchblicken, als er am 26. März 2015 bei einem Treffen des Föderalen Sicherheitsrates Russlands amerikanische „Versuche […], die bestehende nukleare Parität zu verletzen“, verurteilte und sich dabei auf die Schaffung von Raketenabwehrsystemen in Europa und im asiatisch-pazifischen Raum bezog.
Eine tatsächliche Gefahr für Russlands Zweitschlagskapazität besteht aber, was auch Putin wissen sollte, auf absehbare Zeit nicht. Sie bleibt allein schon durch die in Gang gesetzte Reaktivierung des Regimes mobiler landgestützter Interkontinentalraketen, die per Eisenbahn in dem riesigen Land unterwegs sind, sowie durch die vierte Generation strategischer Nuklear-U-Boote der sogenannten Borei-Klasse, deren Einführung begonnen hat, auch in Zukunft gesichert.
Doch selbst im Falle realerer Befürchtungen bliebe immer noch die Möglichkeit, den Gegenschlag etwa der silobasierten russischen Interkontinentalraketen auf Launch under attack umzustellen, also deren Start durch Verkoppelung mit dem russischen Frühwarnsystem quasi zu automatisieren, um den Gegenschlag gegebenenfalls auszulösen, bevor der Angreifer seine Waffen ins Ziel gebracht hat.
Launch under attack würde die Welt allerdings der atomaren Apokalypse ein gutes Stück näherbringen, denn im Falle des Falles blieben dann nicht einmal die wenigen Minuten Handlungsspielraum, die 1983 im Kontrollzentrum Serpuchow-15 doch noch genügt hatten, „den Knopf“ nicht zu drücken.

*

Man kann Kernwaffen und atomare Abschreckung natürlich auch ganz anders sehen und unter vollständiger Ausblendung der hier skizzierten Sachverhalte, historischen Entwicklungslinien, Zusammenhänge und existenziellen Risiken zunächst – wie Michael Rühle kürzlich in der FAZ – bedauern, dass vor „kurzem noch […] Theorie und Praxis der Abschreckung als Relikt des Kalten Krieges [galten]“, dann aufatmen, dass unter „dem Eindruck der Ukraine-Krise […] das Prinzip Abschreckung binnen weniger Monate brennend aktuell geworden“ sein, zugleich mit besorgtem Unterton konstatieren, dass sich nun „kundige und weniger kundige Beobachter an dem Begriff der Abschreckung“ versuchten, und schlussendlich ex cathedra zu verkünden: „Es ist an der Zeit, die Lektionen der Abschreckung wiederzuentdecken. Nur sollten es die richtigen sein.“ Und die offenbar richtigste lieferte Rühle gleich mit: „In einer Zeit der Militarisierung der internationalen Beziehungen kann die Vision einer Welt ohne Atomwaffen nicht Leitprinzip westlicher Sicherheitspolitik sein.“
Nach dieser Logik folgerichtig und kollateral, wenn man so will, stampfte Rühle im selben Beitrag auch gleich noch eine spezielle Fraktion Andersdenkender in Grund und Boden: „Wenn Friedensforscher die Abschaffung der in Europa stationierten substrategischen Nuklearwaffen (der USA – Ergänzung W.S.) mit der Begründung fordern, diese Waffen hätten […] keinen militärischen Wert, so belegen sie damit lediglich ihre Ahnungslosigkeit.“
Rühle schrieb früher Reden für NATO-Generalsekretäre und leitet derzeit das Referat Energiesicherheit der Abteilung für neue Sicherheitsherausforderungen der NATO in Brüssel. Ob er in Sachen atomare Abschreckung zu den kundigen oder eher zu den weniger kundigen Beobachtern zählt, mag der Leser entscheiden.

P.S.: Die Zeiger der berühmten Doomsday Clock, der „Weltuntergangsuhr“ des Bulletin of Atomic Scientists stehen derzeit auf drei Minuten vor zwölf. Auf diesen Stand war die Uhr zuletzt 1983 gesetzt worden – im Jahr der Stationierung von amerikanischen Pershing II-Raketen und Cruise Missiles in Westeuropa. Vom Vorbeischrammen der Welt an der atomaren Katastrophe durch einen Fehlalarm im sowjetischen Frühwarnsystem sowie während des NATO-Manövers Able Archer im selben Jahr erfuhr die Öffentlichkeit erst Jahrzehnte später.
Einen bemerkenswerten Wandel hat vor kurzem der Vatikan vollzogen; in seiner auf der Wiener Konferenz im vergangenen Dezember veröffentlichten Neupositionierung zu Kernwaffen heißt es: „Der Zeitpunkt ist gekommen, nicht nur die Unmoral der Verwendung von Nuklearwaffen zu betonen, sondern auch die Unmoral ihres Besitzes, um damit den Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen zu ebnen.“