18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

NSA, Google & Co. – oder: Die Mechanik des modernen Totalitarismus

von Gabriele Muthesius

Wer im Spiegel, in der Zeit, FAZ oder online bisher noch nicht zur Kenntnis genommen hat oder wer die entsprechenden Entwicklungen rekapitulieren möchte, wie die NSA zu dem Ausspäh- und Überwachungsmoloch, der sie seit langem ist, und nach „9/11 […] zum mächtigsten Geheimdienst der Welt“ (Aust/Ammann) sowie zu einem Instrument, „um das Volk zu managen“ (Ex-NSA-Direktor William Binney) wurde, dem wird dieses Buch eine faktenreiche, gut lesbare Zusammenfassung der Entwicklung der elektronischen Spionage und Massenüberwachung in den vergangenen Jahrzehnten im Allgemeinen und der NSA im Besonderen geben.
Das gilt auch im Hinblick darauf, wie Edward Snowden, ein eher wenig aufregender american guy, im System der US-Geheimdienste und der für diese konstitutiven permanenten Verletzungen der US-Verfassung und -Gesetzgebung (von Tim Weiner an den Beispielen CIA und FBI schon lange vor Snowdens Enthüllungen über die NSA exemplifiziert) zum „größten Geheimnisverräter aller Zeiten“ (Aust/Ammann) mutierte, „der mehr Schaden angerichtet [hat] als jeder andere Spion in der Geschichte unseres Landes“ (Ex-NSA-Chef J. M. McConell).
Und das gilt nicht zuletzt im Hinblick darauf, dass die Praktiken der NSA und anderer Geheimdienste in Kombination mit dem Geschäftsmodell von Google, Facebook & Co. sowie mit Internet, Smartphone und demnächst mit „Internet der Dinge“ („intelligente“ Haustechnik und ähnliches mehr) zu einem Überwachungs-Totalitarismus führen, der die Antizipation einer entsprechenden Gesellschaft durch George Orwell in „1984“ – auf der Basis seiner damaligen Analyse des Stalinismus der 1930er und 1940er Jahre – weit hinter sich lässt. Aust/Ammann verdeutlichen letzteres mit einem Kunstgriff: Sie stellen jedem Kapital ein Zitat aus „1984“ voran und beschreiben nachfolgend eine Realität, die mindestens 30 Jahre und wenigstens eine Dimensionen weiter ist.
Mehr noch – die Autoren verdeutlichen, dass Orwells Totalitarismus-Vorstellungen heute nicht mehr relevant sind, weil sie davon ausgingen, dass totalitäre, sich auf alle Lebensbereiche erstreckende Überwachung, um diese im Sinne von Herrschaftssicherung manipulieren, ja gleichschalten zu können, nur durch Zwang und Strafandrohungen herbeizuführen, durch Widerstand jedoch zu verhindern sei. Das Erstere ist längst obsolet und das Zweitere wahrscheinlich auch schon.
„Big Brother“ als Diktator – das war die Vision von Orwell; heute hingegen kommt die Totalüberwachung, quasi „Big Brother 2.0“, subversiv, mit Zuckerbrot und überwiegend ganz ohne Peitsche – „im Gewand des freundlichen Helfers für den Alltag“ (Aust/Amman) namens Google, Facebook, Microsoft & Apple, Skype, Youtube und wie sie alle heißen. Dabei tragen wir selbst mit „dem Smartphone […] den eifrigsten Spion ständig mit uns in der Tasche herum. Er sendet unter anderem permanent den Standort, liefert Mails, Fotos, persönliche Notizen und Listen aller Kontakte inklusive der dazugehörigen Daten. Ungebetenen Lauschern kann er als jederzeit an- und abschaltbares Mikrofon dienen.“ (Aust/Amman) Das ist aber erst der Anfang. In naher Zukunft wird die nächste technologische Verheißung, das „Internet der Dinge“, den Nutzer noch weit transparenter und damit steuerbarer machen.
Widerstand gegen „Big Brother 2.0“ andererseits setzte Erkenntnis sowie Willen voraus, was von Individuen, die sich selbst ahnungs- und daher hemmungslos ausliefern, schlechterdings nicht zu erwarten ist: „Heute geben Milliarden Internet-User über Mitteilungs­dienste und soziale Plattformen freiwillig ihre privatesten Geheimnisse preis, ohne dass sie die geringste Kontrolle da­rüber haben, was weiter damit geschieht.“ Ja, ohne dass auch nur das geringste Interesse an solcher Kontrolle überhaupt evident wäre. Allein 1,3 Milliarden Mitglieder von Facebook – Leitspruch des Unternehmens laut Andy Müller-Maguhn: „Der Nutzer ist nicht der Kunde, er ist in Wahrheit das Produkt. Die eigentlichen Kunden sind die Werbefirmen.“ – sind der schlagende Beweis dafür. „Das Ausspähen der Internetnutzer“, warnt Jaron Lanier, sei derzeit „offiziell das Primärgeschäft der Informationsökonomie.“ Er warnt völlig umsonst, wie Austs und Ammans Feststellung verdeutlicht: „Das Bemerkenswerte […] ist, dass die Überwachung erst durch den Enthusiasmus der Überwachten (Hervorhebung – G.M.) ihre ganz Wirkung entfalten kann.“ Und dass damit nicht nur „das Volk gemanagt“ werden soll, sondern auch Milliardengeschäfte ermöglicht werden, zeichnen die Autoren detailreich nach. Dazu passt die aktuelle Meldung, einer der Protagonisten in der Mechanik des Totalitarismus, Apple, gerade mit 18 Milliarden Dollar den höchsten Gewinn in der Wirtschaftsgeschichte ausgewiesen hat. Im Jahr? I wo – im Quartal!
Fazit: „Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist die digitale Kommunikationstechnik in der Hand von Regierungen, Geheimdiensten und Konzernen zu einem allumfassenden Überwachungsinstrument geworden, dessen Ausmaße und Kon­sequenzen kaum erahnt werden können.“ (Aust/Amman) Und: „Das Internet […] hat sich in den gefährlichsten Wegbereiter des Totalitariusmus verwandelt […].“ (Wikeleaks-Gründer Julian Assange)
Etwas konkreter? Als Ex-NSA-Direktor Binney vor dem NSA-Untersuchungsausschuss des Bundestages gefragt wurde, wie viele Menschen denn in Deutschland heute nach seiner Kenntnis überwacht würden, antwortete er zunächst: „Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen in Deutschland leben.“ Und nachdem ihm die Zahl genannt worden war: „Ja, dann – 82 Millionen.“
Die Autoren enden mit den Worten: „Die Wiederherstellung der Verfügungsgewalt (des Individuums – Ergänzung G.M.) über die Daten wäre der erste Schritt zu einem neuen Menschenrecht im digitalen Zeitalter. Ohne diese Selbstbestimmung wird es auf Dauer keine Demokratie geben – weder in der virtuellen noch in der realen Welt. Nur die Illusion davon.“ Wie das allerdings bewerkstelligt werden könnte – dazu von den Autoren außer Gemeinplätzen kein Wort.
Eine kritische Anmerkung noch an die Adresse des Verlages: Es ist zu einer scheußlichen Unsitte geworden, Sachbücher ohne Sach- und Personenregister auf den Markt zu bringen. Dank moderner Textverarbeitung hält sich der Aufwand dafür doch nun wirklich in Grenzen.

Stefan Aust / Thomas Amman: Digitale Diktatur, Econ, Berlin 2014, 345 Seiten, 19,99 Euro.