18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

„… aber begnadet würde ich streichen.“

von Alfons Markuske

Alte Interviews zu lesen oder wieder zu lesen, kann ausnehmend spannend, historisch erhellend, Zusammenhänge, Motive, Intentionen in neuem Licht erscheinen lassend und alles in allem auch höchst unterhaltsam sein. Etwa wenn ein hochgebildeter, kenntnisreicher und weltläufiger unabhängiger Geist wie Günter Gaus Persönlichkeiten aus Politik und Zeitgeschichte, später auch Bürgerrechtler und Künstler interviewt, wie er das – mit Unterbrechungen – von den frühen 1960er Jahren bis über die Jahrtausendwende hinweg getan hat.
Ob Giovanni di Lorenzos Auswahl aus den von ihm in über 30 Jahren geführten Interviews, die er im vergangenen Jahr vorgelegt hat, in dieser Liga spielt oder ihr zumindest nahekommt, soll dem Urteil des vergleichen könnenden Lesers anheimgestellt werde. Einen Fächer interessanter Zeitgenossen, der von Armin Müller-Stahl über Margot Käßmann bis zu Helmut Schmidt und Angela Merkel reicht, hat di Lorenzo auf jeden Fall aufzubieten. Auch jenes Interview, das ihm heftigste Kollegen- und öffentliche Schelte eingebracht hat, weil er damit dem über die eigenen unwissenschaftlichen Betrügereien gestürzten Karl-Theodor zu Guttenberg eine wohlfeile Rechtfertigungsplattform nach dem Motto „Wenn’s auch eine unglaubliche Dummheit war, Betrug war’s keiner!“ geboten hatte, ist nicht ausgespart.
Besonders bedrückend ist das Eingangsinterview des Bandes – mit Renate Lasker-Harpprecht, die als Heranwachsende Auschwitz überlebt hat. Ihre Schwester spielte im Mädchen-Orchester des Lagers, was der Schwester und auch ihr selbst den Tod ersparte – nicht zuletzt, weil der verbrecherische Lagerarzt Josef Mengele „eine Mischung aus absolutem Fanatismus […] und […] Sinn fürs Romantische“ war. Die „Träumerei“ von Schumann hatte es ihm angetan, und die Schwester trug das Stück solo vor. Die Schwestern überlebten auch den Transport von Auschwitz nach Bergen-Belsen und das dortige Lager, wo die Menschen zwar nicht vergast wurden, aber an Krankheit und Entkräftung starben – „[…] und an dem Ekel an sich selbst […]. Man war ja derart verdreckt. Wir waren total verlaust, und man hatte ständig Durchfall. Die Mädchen und die Frauen, die in einem Alter waren, wo sie noch ihre Periode hatten, die hatten nichts, um sich in irgendeiner Weise …“
Daneben enthält der Band eine Reihe ebenso erhellender wie teils amüsanter Aussagen, Wertungen und Anekdoten, derentwegen man ja auch liest, was mehr oder weniger bekannte, teils berühmte Zeitgenossen im Laufe der Jahre so von sich gegeben haben.
Etwa Armin Müller-Stahls freimütiges Bekenntnis, warum er mit dem Mauerbau 1961 (zunächst) durchaus einverstanden war und wie lange das anhielt – nämlich vergleichsweise kurz. Oder seine, des Schauspielers, professionelle Kritik am „Kollegen“ Helmut Schmidt – nach dessen eigener Aussage ein „Staatsdarsteller“ und nach der des Interviewers als solcher gar „begnadet“: „Er ist sehr gut, aber begnadet würde ich streichen. Zum Beispiel diese berühmte Geste, wenn er Blätter auf dem Pult zusammenschiebt: Das ist irgendwie pingelig, das muss man mit Grandezza machen. Ich spüre seine Eitelkeit, ich spüre sein Ego.“
Oder die Von-Brauchitsch-Kohl-Kaviar-Geschichte. Als der Spitzenmanager, der im Auftrag des damaligen Flickkonzerns flächendeckend „Landschaftspflege“ durch Verteilung von Zuwendungen an die herrschenden Parteien betrieb, noch nicht das von allen Mittätern und Nichterwischten geächtete Bauernopfer des seinerzeitigen Korruptionsskandals geben musste, hatte er dem Helmut Kohl einmal ein Döschen Kaviar mit besten Grüßen an die Gattin ausgehändigt. Wenig später stellte sich heraus: Der Pfälzer Saumagenfan hatte nicht geteilt. So erhielt die Gattin ein Extra-Döschen – direkt mit Wagen und Fahrer von Frankfurt/M. ins heimatliche Ludwigshafen expediert. Samt einem Dreizeiler: „Damit die russische Marmelade wirklich in Deine Hände kommt […].“ Darüber gab es einen Aktenvermerk, denn Korruption hin, Korruption her – Flick war schließlich ein deutscher Konzern. Solche Aktenvermerke wurden erst mit Eingang einer schriftlichen Danksagung als „abgeschlossen“ getilgt. Hannelore Kohl dankte nicht, und so wurde der Aktenvermerk öffentlich, als die „Landschaftspflege“ schließlich Polizei und Staatsanwälte beschäftigte. Und gab Anlass zu reichlich Häme von den bundesdeutschen Medien an die Adresse Kohl.
Ein weiterer Interviewpartner di Lorenzos war Hans-Jürgen Wischnewski, SPD-Politiker und 1977 einer der „Helden von Mogadischu“, als es gelang, eine von Terroristen entführte Lufthansamaschine zu befreien. „Ben Wisch“, wie ihn die Medien ob seiner exzellenten Kontakte in die arabische Welt auch nannten, hatte mit der damaligen somalischen Staatsführung und den Entführern verhandelt und damit ganz wesentlich das Zeitfenster für den erfolgreichen Zugriff eines Spezialkommandos geschaffen. Auch an anderen Stellen der Welt rettete Wischnewski mit seinem Verhandlungsgeschick Menschenleben, etwa in Chile nach dem faschistischen Pinochet-Putsch von 1973. Di Lorenzo verriet er sein Rezept: „Ich habe meine Gespräche immer so angelegt, dass ich dem anderen sagte: Ich werde Ihnen jetzt einmal sagen, wie ich Ihre Interessenlage sehe. Die Leute haben gestaunt: Der hat sich mit unseren Interessen beschäftigt! Danach habe ich meine Interessen geschildert und gesagt: Jetzt wollen wir mal sehen, ob wir einen gemeinsamen Weg finden. Wie überrascht die Leute dann sind, die schlimmsten Leute, die Sie sich vorstellen können.“ Leider kann dieser Ausnahmepolitiker nicht für heutige Konfliktlösungen reaktiviert werden. Er ist bereits verstorben.

Giovanni di Lorenzo: Vom Aufstieg und anderen Niederlagen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2104, 351 Seiten, 18,99 Euro.