17. Jahrgang | Nummer 24 | 24. November 2014

Die Prignitz – sandverbackenes Land

von Heino Bosselmann

Hören Sie diesen und andere Beiträge zukünftig auf Radio Wanderbuehne. Informationen dazu finden Sie hier.

⇓ Audio herunterladen

Die Prignitz, der nordwestliche Winkel des alten Brandenburg, Landschaft meiner Kindheit, war immer Randregion. Aufwärts der Frühgeschichte, die das bronzezeitliche Königsgrab Seddin verzeichnet, schweigen sich die historischen Karten aus. Obwohl seit askanischer Zeit zur Mark gehörig, gingen die vermeintlich großen Ereignisse hier vorbei. Ein Landstrich jenseits des Grandiosen? Im Gefolge Albrechts des Bären gelangte der deutsche Adel hierher ins einst Wendische. Vom Bistum Havelberg aus christianisierten die Prämonstratenser; die Klöster Heiligengrabe und Marienfließ, beide von Zisterziensern geführt, stärkten den Landesausbau: Ora et labora!
Immerhin, eine Episode, aufgeschrieben von Theodor Fontane in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, verdankt sich dem Landstrich. Als das Reichslehen nach dem Aussterben der Askanier im 14. Jahrhundert fernen Herren, Wittelsbachern und Luxemburgern, zufiel, nutzten dies die Ritter von Quitzow, sich die Mark und zeitweise gar Berlin zu unterwerfen. Diese frühen Warlords duckten das Land, bis sie vom ersten Hohenzollern geschlagen wurden, weil neuartig schweres Geschütz, die „Faule Grete“, ihre Burgen niederlegte.
Andererseits war dies die Zeit der „Devotio moderna“, der spätmittelalterlichen neuen Frömmigkeit, in der sich die Wunderblutkirche Wilsnacks zu einem der größten Wallfahrtsorte Europas entwickelte. Was gerade kleinblütig gewachsen war, zertraten die Landsknechthaufen des Dreißigjährigen Krieges. Die Kaiserlichen zogen ebenso durch wie Dänen und Schweden. Erst dem Großen Kurfürsten sollte es gelingen, die Grundlagen für ein starkes Brandenburg zu legen und die geschundene Prignitz wieder aufzubauen.
Ertragsarmes Land, der Ackerbau auf dem Altmoränengebiet schwierig. Fragt man nach Bodenwertzahlen, wird abgewunken. Sand! Und doch krallen sich die engen Höfe mit ihren windschiefen Ställen und Scheuern seit Jahrhunderten in dieser spröden Gegend fest – zähe, flach unterm hohen Himmel hingeduckte Bodenbrüter, karges, aber fest an den Knochen liegendes Leben. Zur Elbaue hin werden die Wiesen satter, die Dörfer reicher. Mehr Backstein als Lehm, rote Klinker, heller Stuck, Veranden mit sommers knisternd abblätternder Farbe, Staketenzäune, früher moosgrün und weiß bespitzt. Mancher Wirt leistete sich sechs Linden vor der Kneipe. Verblassende Schrift: „Zu den sechs Linden. Gepflegte Speisen und Putlitzer Biere. Ausspannung“. Ausspannung. Was für ein gutes Wort. Ob es noch passt, da der Landkreis die größte Abwanderungsrate der Republik verzeichnet?
Wer kam schon von hier? Turnvater Jahn, Pastorensohn aus Lanz, von den Universitäten verwiesen, verfolgt, in Haft, aber „frisch, frey, fröhlich, frumb“ eine der Symbolfiguren des nationalen Gedankens, Gottfried Arnold, Pastor in Perleberg, erweckter Pietist, „Engelsbruder“, Verfasser einer „Kirchen- und Ketzergeschichte“, die auf Friedrich den Großen, Lessing und Goethe wirkte, Lotte Lehmann, Operndiva, jubelnd beklatscht in Neu York, wie man damals sagte. Nur ein echter Dichter, geboren im Mansfelder Pfarrhaus bei Putlitz, später als Arzt in Berlin oft der Heimat gedenkend, wo sein „Lebensweg eines Intellektualisten“ begann – Gottfried Benn.
Komme ich dorthin zurück, ziehe ich mir die Sportschuhe an und laufe die alten Kindheitswege ab. Während ich einen weiten Bogen über die Dörfer und Wiesen und durch den Kiefernwald ziehe, ist mir, als atmete ich die Landschaft ein, als ginge sie ätherisch durch mich hindurch. Ich habe dann die Gewissheit: Von hierher kommt deine Kraft. Du holst dir dein Material von da und dort, aber der Ursprung, der Ansatz von Wachstum ist hier, wohin sich kein Tourist je verirrt, weil es weder Highlights noch Events gibt. Über die Löcknitz donnern die Züge – eine Richtung Hamburg, die andere Berlin, beide, Haupt- und Hafenstadt etwa gleich weit entfernt. Weit genug.
Provinzialismus? Durchaus! Heim-Wege! Meine Eltern haben an der kleinen Dorfschule als Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer gearbeitet. Ich spielte in ihren Vorbereitungsräumen, weil dort das richtige Zeug zur Hand war: Mikroskop, Optiksätze, Experimentaufbauten. Mein Vater ist Sohn von Tagelöhnern, die Mutter eine von vielen Töchtern einer polnischen Fremdarbeiterfamilie. DDR-Karrieren: Sogenannte kleine Leute, die studieren durften, wie man das damals ausdrückte, um dann ein Leben lang zu unterrichten.
Einer so resoluten wie herzlichen wie – im Wortsinn – alleinstehenden Grundschullehrerin, Lisa Peter, verdanke das Schreiben, das Lesen, das Rechnen – Eintrittsbillets in die Kulturgesellschaft, mehr wert als die Oberschule und die Universität danach. Ideologiefreier Strenge, eine harte Form von Verbindlichkeit und Verlässlichkeit und eine Haltung, die mit dem Begriff Glück wenig, aber sehr Elementares verband. Als ich viel später hörte, sie würde in ihrer Zweiraumwohnung krebskrank dem Tod entgegensehen, habe ich sie, längst selbst Lehrer, allein aufgesucht und mich für meine vier wichtigsten Jahre Unterricht bedankt. Ich traf eine Sterbende, die klar sah und die, gezeichnet und abgezehrt von der Krankheit, beinahe, ja, jünger wirkte, fast etwas mädchenhaft, vielleicht wirklich unbeschwert. Sie fand meinen Besuch rührend, aber meinte, er wäre nicht nötig gewesen. Ja, ich könne mich verabschieden; es wäre gut jetzt. Und bitte die Tür schließen. Nie zog ich langsamer eine Tür hinter mir zu. Nie leiser.
Mehr als alles andere bin ich Prignitzer Dorfkind. Statt Klavier zu spielen, habe ich in der Löcknitz Hechte geblinkert. Ich bewunderte die Männer und Frauen, die mit den Traktoren und auf hohen Mähdreschern stolz durchs Dorf fuhren. Der riesigen Blutbuche am Schlossteich versuchte ich wie jeder andere Junge meine Initialen so hoch wie möglich in die hautartige Borke zu schneiden, nachdem ich endlich ein eigenes Taschenmesser bekommen hatte. Am höchsten kam aber Pieche Madaus, der mutigste von uns, dessen Leben früh mit seinem ersten Motorrad an einer Linde hinter der Löcknitzbrücke endete. Wir schreinerten ihm das Holzkreuz und schrieben seinen Namen und den Todestag mit heißem Lötkolben ein.