17. Jahrgang | Nummer 19 | 15. September 2014

Auf der „Santa Maria“

von Renate Hoffmann 

Es wäre nicht zutreffend zu behaupten, ich sei ausschließlich ihretwegen nach Madeira gereist, aber auch ihretwegen. Christoforo Colombo (um 1451-1506) hatte die dreimastige Karavelle – oder Karacke, man ist sich uneins – zu seinem Flaggschiff erwählt, als er die berühmte Fahrt von Spanien aus westwärts nach „Ostasien“ aufnahm und auf einer der nordöstlichen Inseln der Bahamas ankam. Von den Bewohnern „Guanahani“ genannt, von Columbus zu „San Salvador“ umbenannt und dem spanischen Machtbereich einverleibt. Mitsegler seiner Flottille  waren die zwei kleineren Schiffe „Pinta“ und „Nina“. – Die „Indianer“ ahnten noch nichts von ihrem ferneren Schicksal, und Columbus beharrte bis zu seinem Tod darauf, Indien, beziehungsweise eine Route zum chinesischen Festland, in Richtung Westen gefunden zu haben.
Die „Santa Maria“, schwerfällig und nach Aussagen ihres Kapitäns, ungeeignet für das risikobehaftete Unternehmen, strandete noch im selben Jahr der geglückten Überquerung des  Nordatlantischen Ozeans. In der Nacht vom 25. zum 26. Dezember 1492 lief sie unter widrigen Umständen vor der Küste von Haiti auf eine Sandbank und war nicht mehr flott zu machen.
Als Grund muss man wohl, nach Columbus’ Eintragungen im Logbuch, das Außerachtlassen von Ordnung und Sicherheit annehmen. Er hatte sich nach zwei Tagen und zwei Nächten ohne Schlaf gegen 23 Uhr niedergelegt. „Da vollkommene Flaute herrschte, wollte auch der Steuermann etwas der Ruhe pflegen und überließ das Steuerruder einem Schiffsjungen. Dies hatte ich während der ganzen Fahrt aufs strengste untersagt, […] So geschah es, daß die Strömung das Schiff in aller Ruhe auf eine Untiefe auffahren ließ.“ Knirschen und Krachen und großes Geschrei …
Die Daten der „Santa Maria“ waren im wesentlichen folgende (Angaben nach den Aufzeichnungen des Navigators aus Genua): Baujahr, Stapellauf – um 1480; Länge – 23,6 m; Breite – 7,29 m; Tiefgang – maximal 2,1 m; 5 Segel; Besatzung – 39 Mann. Kriegerisch ausgestattet mit „Bombardellen, Kolubrinen, tragbaren Armbrüsten und Büchsen.“ Das Hauptsegel am Großmast trug das rote Kreuz des Christusritterordens.
Nun fand sich ein Enthusiast, der 1998 – vielleicht in Verehrung für Columbus oder als Liebhaber historischer Schiffe – den Nachbau der „Santa Maria“ betrieb. Robert Wijntje. Er wählte zur Rekonstruktion das Fischerdorf Câmara de Lobos an Madeiras Südküste.
Beim Eintreffen auf der portugiesischen Insel im Nordatlantik überrascht mich freundlich-fremdartig zweierlei: Betörender Blumenduft und die Warnung am Hotel-Aufzug in Santa Cruz: „Fahrstuhl bei Feuer und Erdbeben nicht betreten!“ Demnach stehe ich auf Vulkanboden mit fruchtbarer Erde und der Vegetation günstigem Klima.
Die „Santa Maria“ liegt im Hafen von Funchal vor Anker; Hauptstadt von seltenem Reiz. Als flösse sie, Lavaströmen gleich, die gebirgigen Hänge herunter und breite sich gegen das Meer hin aus. Von subtropischem Blühen und farbenprächtigen Märkten durchzogen; enge Gassen, geschichtsträchtig und verkehrsreiche Boulevards. – Der auffrischende Seewind trägt Kommandorufe herüber und Teergeruch. Sie ist am Kai festgemacht und knarrt an ihren Tauen, die nachgebaute „Santa Maria“. Staunender Blick auf das Ungetüm – und achtungsvolles Gedenken dem Kapitän Columbus, der mit diesem plumpen Segler die Tücken des Weltmeeres überwand.
Zweifel steigen auf. War es wirklich so beschaffen, das für Entdeckungsreisen ungeeignete Schiff? Beim Ticketkauf bitte ich um die technischen Daten des Nachbaues. Sie weichen nur unerheblich vom Original ab. Ergänzend kommen hinzu: Segelfläche – 192 m²; Motor – 455 PS.
Ein Matrose mit Augenklappe und einem Papagei auf der Schulter, der wahrscheinlich „Willkommen!“ auf Portugiesisch unermüdlich krächzt, hilft galant beim Übersteigen. Gewirr von Tauen auf den Planken und ein Holzkäfig für die mitgeführten Hühner, beauflagt, fleißig Eier zu legen, bevor sie selber zum Verzehr kamen. – Dreimal läutet die Schiffsglocke. Mit gerefften Segeln verlässt die „Santa Maria“ den Hafen. Leise tuckert der Motor. Armer Columbus, er musste auf günstigen Wind warten, ehe er am „Donnerstag, den 6. September“ (1492) ablegen konnte: „Am Morgen dieses Tages verließ ich den Hafen von La Gomera (Insel des Kanarischen Archipels, R.H.) und ging unter Segel, um meine Ueberfahrt zu beginnen.“
Man darf ungehindert durch die Schiffsräume gehen, steigen, klettern – oder schwanken, wenn die „Santa Maria“ ins Schlingern gerät. Nur der Mastkorb bleibt unbestiegen. Von dort aus erscholl am 12. Oktober „zwei Uhr morgens“ der historische Ruf. Nein, er erscholl von der „Pinta“, sie war um einige Schiffslängen voraus, und der Matrose Rodrigo Triana gilt als der Rufer. Letztendlich aber stand Columbus selbst die ruhmreiche Entdeckung zu: „ … ich (hatte) um 10 Uhr nachts (Donnerstag, 11. Oktober R.H.) vom Aufbau des Hinterschiffs aus ein Licht bemerkt, […] man sah das Licht ein-, zweimal aufscheinen, […] ich war fest davon überzeugt, mich in der Nähe des Landes zu befinden.“
Das Logbuch gibt genauen Aufschluss und liegt, nachgeahmt, in der Kapitänskajüte auf der massiven Schreibplatte. Daneben Schreibzeug und Kerze, nur wenig Licht fällt durch die blinden Butzenscheiben der kleinen Fenster. Zwei Pistolen mitsamt dem Pulverbeutel, in Griffnähe, schrecken den Besucher. Die Sanduhr zum „Glasen“, dem Wachwechsel und, erst allmählich wahrnehmbar, eine schwarze Katze im Tiefschlaf (unecht). Das Maskottchen? – Wenn Columbus tatsächlich in dieser Koje, angepasst der bauchigen Schiffsform, schlief, dann muss er mit angezogenen Knien gelegen haben. Ankunft in der Moderne: Steckdosen und Rauchmelder.
In den Mannschaftsräumen unter Deck werden Fruchtliköre und Probiertröpfchen vom edlen Madeirawein angeboten. Es herrscht allgemeine Fröhlichkeit. – Ein Museum findet Platz. Zwischen großen Fässern, einem kleinen angeketteten Branteweinfässchen, inmitten Fendern, Seemannskisten, einfachen Peilgeräten, Schildkrötenpanzern, geborgenen Münzen, vom Wasser benagt, einem Marienaltärchen fühlt man sich alsbald der Mannschaft des Columbus’ zugehörig. Angeheuert als Leichtmatrose?
Ich eile auf Deck. Die Segel werden gesetzt. Ihrer fünf fangen sie den Wind, der in den Wanten sirrt und entfalten stolz das Kreuz des Christusritterordens. Wir segeln entlang der Südküste und ihren mächtigen roten Felsstürzen. Die Verwerfungen und Einsprengsel bilden imposante Strukturen. Am verbleibenden schmalen Uferstreifen drängen sich kleine Gärten mit Zuckerrohr- und Weinanbau. Rote Großflächen, grüngesäumt und in das Blaugrün des Meeres übergehend. Unvergesslicher Anblick.
„Delphine! Delphine!“ Die verspielten Tiere umkreisen das Schiff, schnellen aus dem Wasser empor, werfen sich herum – und verschwinden ebenso rasch, wie sie gekommen sind. Columbus notierte am Montag, den 17. September im Logbuch ein anderes zoologisches Ereignis. Land verheißend. „Am Morgen sichtete ich einen weißen Vogel, der paglia in coda heißt und niemals am Meere zu schlafen pflegt.“ (Anmerkung des Übersetzers: „vielleicht eine Ufermöwenart.“)
Die „Santa Maria“ wendet, und die Mannschaft holt das Hauptsegel ein. Vorbei an kleinen Orten mit klangvollen Namen wie Ponta do Sol, Ribeira Brava und Câmara de Lobos. Diese uralte Ortschaft aus der Entdeckerzeit der Insel, die nach den ehemals dort heimischen Seehunden (portugiesisch: „lobos marinhos“) ihren Namen erhielt; die ihre Altstadt um einen ragenden, weithin sichtbaren Felsen schart; in der Winston Churchill von hoher Warte aus die Hafenbucht malte, und auf deren Werft der Nachbau der „Santa Maria“ vonstattenging. Ein Schiff, das von voreilig angenommener Plumpheit nichts mehr an sich hat, wenn man mit ihm segelt.
Columbus schrieb an einem Sonntag im September 1492 (und meinem Eindruck des heutigen Tages sehr nahe), er erlebe die Schönheit dieses Morgens mit wahrem Genuss und es fehle fast nichts anderes zum vollen Zauber, als der Sang der Nachtigallen…