17. Jahrgang | Nummer 11 | 26. Mai 2014

Gegen Russland – warum eigentlich nicht?

von Wolfgang Schwarz

Gäbe es in der aktuellen Krise um die Ukraine und im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland ein Ranking der verschriftlichten strategischen Einfalt, dann hätten folgende Passagen berechtigte Aussicht auf einen Spitzenplatz: „Banale Floskeln aus dem Schatzkästlein deutscher Diplomatie-Folklore (‚Sicherheit in Europa gibt es nur mit und nicht gegen Russland‘) übertünchen die eigene Ratlosigkeit.“ Nämlich darüber, welche Konsequenzen die NATO aus der Krise ziehen solle. Doch der Autor sieht klar: „Der Schutz der geografisch exponierten Verbündeten in Mittelosteuropa wird wieder in den Mittelpunkt rücken.“
Der das schrieb und unlängst in der Neuen Zürcher Zeitung zum Besten gab, ist Michael Rühle. Er fungierte seit 1991 als Redenschreiber diverser NATO-Generalsekretäre und leitet jetzt das Referat für Energiesicherheit der NATO. Dass er seiner früheren Position wegen solcher Einlassungen wie der hier zitierten verlustig ging, darf allerdings bezweifelt werden. Denn auch der scheidende NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen schwadroniert derzeit vornehmlich über militärische Antworten an Moskau, die der Abschreckung dienten, und: „Wir sind auf alle Eventualitäten eingestellt, wir haben dafür Verteidigungspläne.“
Wissen diese Leute wirklich, wovon sie reden?
Die mittelosteuropäischen Staaten – allen voran die baltischen und Polen – sind heute in einer vergleichbaren Lage wie die beiden deutschen Staaten während des Kalten Krieges. Sollte es zu einem militärischen Konflikt zwischen der NATO und Russland kommen, wären sie Kriegsschauplatz. Dann würde militärischer Schutz, zumal im Falle des Einsatzes taktischer Kernwaffen, rasch auf Vernichtung hinauslaufen und für die betroffenen Staaten jedes Sinnes entbehren. Taktische Kernwaffen – das sind die mit den besonders kurzen Reichweiten. Im Kalten Krieg wussten auch ganz konservative bundesdeutsche Politiker wie Alfred Dregger: „Je kürzer die Reichweite, desto toter die Deutschen.“ Das gilt heute für die Mittelosteuropäer. Russland verfügt nach westlichen Schätzungen über bis zu 5.000 taktische Sprengköpfe. Über ein russisch-weißrussisches Manöver im Jahre 2009 in Grenznähe zur NATO schrieb Thomas Gutschker dieser Tage in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Sogar der Einsatz taktischer Atomraketen wurde simuliert.“ Als Trägersystem geistert immer wieder eine russische Kurzstreckenrakete namens „Iskander“ als möglicherweise bereits bei Kaliningrad stationiert durch hiesige und andere westliche Medienberichte.
Auch aus dem Kalten Krieg noch in Erinnerung sein sollte, dass beim Einsatz solcher Waffen in Europa amerikanisches Territorium nicht bedroht und es daher höchst zweifelhaft ist, ob die USA in einem solchen Falle strategisch antworten würden, riskierten sie damit doch die eigene Vernichtung durch einen Gegenschlag. Für Bundeskanzler Helmut Schmidt war das Ende der 70er Jahre Grund genug, die Nachrüstungsdebatte vom Zaun zu brechen und den NATO-Doppelbeschluss von 1979 herbeizuführen, der mit Pershing II und landgestützten Cruise Missiles schließlich US-Systeme nach Westeuropa brachte, die Ziele tief in der Sowjetunion hätten erreichen können. Nach der Schmidtschen Abschreckungs- und Kriegsverhütungslogik sollte dies die Gefahr eines begrenzten, nur mit nichtstrategischen Kernwaffen geführten Konfliktes auf mittel- und westeuropäischem, speziell deutschem Boden bannen.
Es verwundert, dass all dies in Warschau und in den baltischen Hauptstädten nicht gesehen wird, wo führende Politiker stattdessen mit einem Säbel in Richtung Russland rasseln, über den sie selbst gar nicht verfügen. Polens Außenminister Radoslaw Sikorski gar sieht das Heil für sein Land in zu errichtenden amerikanischen Militärbasen. Die NATO ergeht sich unterdessen in einer Politik der militärischen Nadelstiche. Jedoch: Je 600 US-Militärs zu Übungen in Polen und abgeordnet nach Rumänien, einige US-Kriegsschiffe in der Ostsee und im Schwarzen Meer, drei Dutzend amerikanische Kampfflugzeuge samt AWACS-Einsätzen nahe russischer Grenzen und demnächst vielleicht ein paar NATO-Brigaden permanent in vorgeschobenen mittelosteuropäischen Positionen – mit all dem mögen Herbeiwünscher wie Veranlasser sich selbst gehörig beeindrucken. Trotzdem gleichen diese Aktivitäten eher dem „Pfeifen im Wald“, wie es kürzlich in einem Spiegel-Beitrag unter der Überschrift „Szenario mit bitterem Ende“ hieß. Darin wurde das „in Nato- und Regierungskreisen übereinstimmend bestätigte Lagebild“ im Übrigen folgendermaßen skizziert: „Das Bündnis sähe sich derzeit außerstande, das Baltikum mit konventionellen Mitteln zu verteidigen […].“ Aber auch wenn die Lage anders bewertet würde: An den zuvor genannten Sachverhalten der potenziellen strategischen Gefährdung der mittelosteuropäischen NATO-Staaten änderte dies nichts. Vielleicht wäre ja ein sozialdemokratischer deutscher Außenminister in diesem Zusammenhang besonders geeignet, zu entsprechendem Erkenntnisfortschritt von Warschau bis Tallin etwas beizutragen.
Und damit wir Deutschen nicht das Gefühl haben, uns ginge das alles vielleicht so unmittelbar ja doch nichts an, sei hier nur an den Sachverhalt erinnert, dass auf dem Fliegerhorst der Bundesluftwaffe in Büchel in der Eifel noch immer etwa 20 taktische US-Atombomben lagern, die im Falle des Falles mit deutschen Tornado-Kampfbombern in Richtung Russland in Marsch gesetzt werden sollen. Es wäre höchst fahrlässig, nicht davon auszugehen, dass dieses Arsenal zugleich auch Bestandteil der russischen nuklearen Zielplanung ist, denn über die Mittel zu dessen präventiver Ausschaltung – nur eine solche wäre, wenn überhaupt, militärisch sinnvoll – verfügt Russland als atomare Supermacht allemal.
Allein aus den hier dargestellten Gründen ist die Erkenntnis, dass es Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland gibt, weder banal noch Diplomatie-Folklore sondern von strategischem Gewicht. Und daher bietet allein Sicherheitspartnerschaft mit Moskau eine zukunftsfähige Perspektive – als notwendige Ergänzung der seit Jahrzehnten bestehende Sicherheitspartnerschaft im Nordatlantikpakt.
Dass es darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer gravierender Gründe dafür gibt, die immer wieder hoch schwappende Konfrontation zwischen Moskau und dem Westen endlich zu überwinden beziehungsweise durch nachhaltige Kooperation abzulösen, das hat Botschafter a. D. Frank Elbe kürzlich im Blättchen dargelegt.