Robert Kurz †
Robert Kurz, einer der wichtigsten zeitgenössischen Theoretiker des linken Spektrums in Deutschland, ist gestorben. Mit 68 Jahren ist der einer Arbeiterfamilie entstammende Philosoph, Publizist und Journalist am 18. Juli den Folgen mehrerer Operationen erlegen, wenige Tage, bevor sein neues Buch erscheinen wird. „Geld ohne Wert. Grundrisse zu einer Transformation der Kritik der politischen Ökonomie“ ist laut dem herausgebenden Horlemann-Verlag eine „kategoriale Kritik des Kapitalismus“, vor der „die gesamte demokratisch domestizierte Linke bislang zurückscheut“. Die Theorie-Zeitschrift EXIT!, die Robert Kurz einst mitbegründete, schreibt in ihrem Nachruf: „Die kritische Theorie verliert in ihm einen streitbaren Denker und radikalen Kritiker in einer Zeit, die mehr denn je danach verlangt, ‚alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist‘. Dafür hat Bobby gelebt und gestritten.“
HWK
Die Geldwerdung Gottes
oder die Gottwerdung des Geldes
Im Mittelalter herrschte unter dem Volke die Meinung, wenn irgendein Gebäude zu errichten sei, müsse man etwas Lebendiges schlachten und auf dem Blute desselben den Grundstein legen; dadurch werde das Gebäude fest und unerschütterlich stehen bleiben. War es nun der altheidnische Wahnwitz, daß man sich die Gunst der Götter durch Blutopfer erwerbe, oder war es Mißgriff der christlichen Versöhnungslehre, was diese Meinung von der Wunderkraft des Blutes, von einer Heilung durch Blut, von diesem Glauben an Blut hervorgebracht hat: genug er war herrschend, und in Liedern und Sagen lebt die schauerliche Kunde, wie man Kinder oder Tiere geschlachtet, um mit ihrem Blute große Bauwerke zu festigen. Heutzutage ist die Menschheit verständiger; wir glauben nicht mehr an die Wunderkraft des Blutes, weder an das Blut eines Edelmanns noch eines Gottes, und die große Menge glaubt nur an Geld. Besteht nun die heutige Religion in der Geldwerdung Gottes oder in der Gottwerdung des Geldes? Genug, die Leute glauben nur an Geld; nur dem gemünzten Metall, den silbernen und goldenen Hostien, schreiben sie eine Wunderkraft zu; das Geld ist der Anfang und das Ende aller ihrer Werke; und wenn sie ein Gebäude zu errichten haben, so tragen sie große Sorge, daß unter den Grundstein einige Geldstücke, eine Kapsel mit allerlei Münzen, gelegt werden.
Ja, wie im Mittelalter alles, die einzelnen Bauwerke ebenso wie das ganze Staats- und Kirchengebäude, auf dem Glauben an Blut beruhte, so beruhen alle unsere heutigen Institutionen auf dem Glauben an Geld, auf wirklichem Geld. Jenes war Aberglauben, doch dieses ist der bare Egoismus. Ersteren zerstörte die Vernunft, letzteren wird das Gefühl zerstören. Die Grundlage der menschlichen Gesellschaft wird eine bessere sein, und alle großen Herzen Europas sind schmerzhaft beschäftigt, diese neue bessere Basis zu entdecken.
Aus: Heinrich Heine, Die romantische Schule, Drittes Buch, 1833
Ernst May in Moskau
Unter den Zehntausenden, die ab etwa der zweiten Hälfte der 1930er Jahre dem Massenterror Stalins und seiner Vasallen zum Opfer fielen, waren, wie man weiß auch viele, die in die Sowjetunion vor dem Nazi-Terror geflüchtet waren. Aber auch solche, die zuvor hierher gekommen waren, um enthusiastisch beim sie anziehenden, begeisternden Aufbau einer neuen Gesellschaft zu helfen. Namentlich für deutsche Linke unter Künstlern war Moskau in den Jahren nach der Oktoberrevolution von 1917 ein regelrechter Magnet, auch für Architekten wie den bedeutenden Stadtplaner und Architekten Ernst May, dessen Spuren ein Buch von Thomas Flierl nachgeht.
May war 1930 aus Frankfurt/Main mit Familie und weiteren 17 Mitarbeitern (insgesamt 40 Personen), zum Teil aus dem Bauamt der Stadt, nach Moskau gezogen. Er wollte helfen, den Wohnungsbau in der jungen UdSSR zu forcieren und den Städtebau voranzubringen. Die ausländischen Spezialisten entwickelten Pläne zum Aufbau und Ausbau neuer Städte in ganz Russland. Eine wahnsinnige Aufgabe, die man nur im großen Maßstab angehen konnte und die viel Phantasie erforderte. May leitete 1931/32 rund 150 ausländische Spezialisten und deren 800 Mitarbeiter an. In mindestens zwanzig Orten der Sowjetunion sind Spuren der Arbeiten seiner Gruppe nachverfolgbar. Sie hinterließ nicht nur Pläne und Projekte wie für Moskau, Stalingrad oder Magnitogorsk, sondern auch viele gebaute Gebäude und Straßenzüge. Eigene Reisebeschreibungen, Gedanken zur Gestaltung einer sozialistischen Stadt, zu Problemen wie Leben und Arbeiten, Kultur und Verwaltung in einer Stadt, sind authentisch erhalten und bei Flierl nun nachlesbar. Alles Originale, zum Teil in russischen Archiven aufgespürt und aufbereitet. May publizierte in diesen Jahren auch unter Pseudonym in deutschen Architekturzeitschriften. Alles spannend, historisch wertvoll und bereichernd. Flierl hat auch – eher unerwartet – die russische Personalakte Mays auf den Tisch bekommen. Man erfährt, dass in der Sowjetunion an der technischen „Aufbaufront“, ein Amerikaner Industriekomplexe im großen Maßstab entwickelte. Bald stoßen in der Sowjetunion politische Fronten aufeinander. Unter dem Stichwort „Primat der wirtschaftlichen Entwicklung“ gehen soziale und kulturelle Ansprüche unter, oder werden wenigstens vernachlässigt. Das Projekt von Ernst May verliert an Bedeutung, und er verlässt 1933 enttäuscht die Sowjetunion. Der Architekt wandert nach Afrika aus, um 1954 als Chefplaner für die „Neue Heimat“ in Hamburg tätig zu werden.
Flierls Arbeit stößt eine Tür auf, die in der Geschichtsbetrachtung bisher wenig untersucht wurde. Das Buch ist aufschlussreich für Historiker, Architekten und Städteplaner, aber auch für Menschen, die gerne etwas mehr wissen wollen über Probleme vergangener Epochen und deren Auswirkungen bis ins Heute. Was ist die soziale Stadt, wie sieht solch eine Stadt aus, was regiert sie, wie sollen und können Menschen da leben oder ihr Leben lebenswert gestalten. Gibt es etwas so wie eine sozialistische Stadt, was ist der Unterschied zu einer sozialen Stadt? … – Fragen, die noch immer einer Antwort harren.
Thomas Flierl: Standardstädte – Ernst May in der Sowjetunion 1930-1933, Texte und Dokumente, Herausgegeben von Thoma Flierl, edition Suhrkamp 2643, Berlin 2012, 16 Euro
Andreas Henselmann
Worpsweder Märchenprinz
Heinrich Vogeler (1872 bis 1942) gehört sicherlich zu den faszinierendsten, wiewohl heute unbekanntesten deutschen Künstlerpersönlichkeiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts (siehe Helmut Donat in DAS BLÄTTCHEN 13/2012). Seine Arbeiten waren im besten Sinne stilbildend. Die in Deutschland unter dem Namen „Jugendstil“ firmierende Richtung erhielt nicht zuletzt durch Vogelers Kunst wohl ihre für unser Stilempfinden gültige, ja endgültige Ausprägung. Der Kunst nur als ganzheitliche Entäußerung menschlicher Natur empfinden Könnende war sich nicht zu schade, Essbestecke zu entwerfen. Die in den Chroniken der Kunstwissenschaft auf den Jugendstil folgenden „-ismen“ vermochte Heinrich Vogeler allerdings kaum noch mitzugehen. Das hat viel mit biographischen Brüchen und Umbrüchen zu tun, denen Renate von Rosenberg in ihrem Roman „‚Adieu Märchenprinz’. Wandlungen des Künstlers Heinrich Vogeler“ nachzuspüren versucht. Genau genommen handelt es sich bei von Rosenbergs Buch eher um einen biographischen Essay denn um einen Roman. Das fiktionale Moment tritt häufig zugunsten des erklärenden, manchmal dozierenden, zurück. Dem Wert des Buches leistet dies keinen Abbruch. Renate von Rosenberg gibt auch dem kundigen Leser manch schöne Anregung zu vertieftem Nachdenken. Die Autorin ist ihrem Protagonisten sehr nahe. Das ermöglicht ihr sensible, nur großer Empathie mögliche Erklärungen von für uns Nachgeborene eigentlich unfassbaren Geschehnissen: Pars pro toto sei hier nur auf den großer Liebe folgenden Bruch mit Martha hingewiesen. Dass ausgerechnet Martha Vogeler schlussendlich bei den Faschisten landete, dafür liefert die Autorin einen durchaus schlüssigen Ansatz. Schön lesen sich die Passagen des Buches, in denen Petra von Rosenberg versucht, Vogelers Ringen um die Übereinstimmung von neuer Form und revolutionären Inhalten darzustellen. Manche Dialoge kommen etwas hölzern daher, so sprach sicher auch Heinrich Vogeler nicht. So schrieb er. Die Darstellung der Begegnung mit der Bremer Frauenrechtlerin Auguste Kirchhoff im Jahre 1917 wird dadurch eher zum „Notenaustausch“ denn zum Aufeinandertreffen zweier Wahlverwandter. Dem Wert des Buches tut dies aber keinen Abbruch. Den Weg des im Ornament zu erstarren drohenden Künstlers zum politisch Eingreifen Wollenden, die Umwandlung der weltfernen Worpsweder Idylle Barkenhoff zum Kinderheim der Roten Hilfe im Jahre 1923 habe ich selten auf so fesselnde Weise nachlesen können. Und es ist gut, dass sie dem Schlüsselerlebnis Erster Weltkrieg so breiten Raum widmet. Leider bricht die Autorin im Jahre 1923 ihre Erzählung ab. Das dramatische Scheitern des Kommunisten Heinrich Vogeler beschreibt sie komprimiert in einem „Epilog“. Arthur Koestler brachte dies auf die kurze Formel: „Wir kommunistischen Intellektuellen bürgerlicher Herkunft waren in der Partei geduldet, aber wenig geschätzt.“ Vogeler – von den neuen Freunden seiner einstmals heiß geliebten Martha ganz oben auf die Fahndungslisten beim Überfall auf die Sowjetunion gesetzt – starb im sowjetischen Exil. Seine Genossen ließen ihn im wahrsten Sinne des Wortes verhungern.
Wolfgang Brauer
Renate von Rosenberg: „Adieu Märchenprinz“. Wandlungen des Künstlers Heinrich Vogeler, Donat Verlag, Bremen 2012, 240 Seiten, 14,80 Euro
Ach, Rousseau …
Es ist fast vollbracht. Was in der DDR als Grund und Boden verstaatlicht war und damit volkseigen, ist nun zu 80 Prozent privatisiert: Wald und Feld, Flur und Gewässer. Rund 5,3 Milliarden Euro hat der Bund seit 1992 durch die Veräußerung von DDR-Agrarland eingenommen, dahinter verbergen sich rund 1,3 Millionen Hektar Land- und Forstflächen. Nix mehr mit Volkseigentum, nun haben wieder Privatiers (wenn auch meist virtuelle) Zäune um „ihr Land“ gezogen. Da muss einem zwangsläufig ein derzeit vielzitierter Jubilar einfallen. Jean-Jacques Rousseau, der nun 300jährige hat 1755 in seiner „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen“ mit zeitloser Gültigkeit festgestellt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.‘“
Hella Jülich
Und wieder mit dabei
Dank der Streubomben-Konvention gibt es seit 2010 einen völkerrechtlichen Vertrag über das Verbot des Einsatzes, der Herstellung und der Weitergabe von Streumunition. Dass Deutschland die Konvention bereits 2009 unterzeichnet hat, kann es sich zur Ehre gereichen, es unterscheidet sich damit immerhin von Staaten wie den USA, Russland, China, Israel, Indien, Pakistan und Brasilien, wobei es sicher nicht überrascht, dass etliche von diesen zu den weltweit größten Herstellern dieser perfiden Mordinstrumente gehören.
Aber wie das so ist, eines verbietet die Konvention halt nicht: Die Finanzierung der geächteten Waffen. Und dann nützt die Ächtung eben nur sehr bedingt. Rechercheure von Facing Finance machten jetzt öffentlich, dass die Deutsche Bank auch nach der Ankündigung ihres seinerzeitigen Chefs Josef Ackermann, Streubombenproduzenten keine Kredite mehr zu gewähren, ein Darlehen in Höhe von über 47 Millionen Euro an das US-Unternehmen L-3 ausgereicht hat.
Ein Sprecher der Deutschen Bank hat den Sachverhalt mit vorbildlicher Transparenzbereitschaft bestätigt. L-3 habe aber zugesagt, so schnell wie möglich aus diesem Geschäftsbereich auszusteigen, wusste er zu beruhigen. Na dann … Und bestehende vertragliche Verpflichtungen müssten halt erfüllt werden; Ehrensache!
Human Rights Watch hat dieser Tage übrigens Syrien angeklagt, Streubomben gegen seine Opposition einzusetzen. Vielleicht sind die ja auch von der deutschen Bank vorfinanziert worden. Und schon wären wir wieder mal dabei …
Helge Jürgs
Olympia ruft
Zunächst: Dass die Zeiten, wo die sportlichen Wettkämpfer bei Olympia nahezu nackt antraten, um die besten zu ermitteln, sind lange vorbei und bedürfen wohl auch keiner Renaissance. Seitdem die Athleten angezogen agieren ging es diesbezüglich eigentlich immer nur darum, die Kleidung möglichst leicht und windschlüpfrig zu machen und attraktiv sowieso.
Da seit Nine Eleven ja nichts mehr ist, wie’s vorher war, haben sich auch die Umstände bei der Austragung Olympischer Spiele dramatisch verändert. Wie schon vorher bei den Festen der Völkerfreundschaft bewacht jede Menge Militär die Spiele, auf dass diese nicht zum Ziel von Terroristen werden. London, wo es ab dem 27. Juli um Schneller, Höher, Weiter gehen wird, schießt nun den Sicherheits-Vogel ab. Mit Raketenwerfern zum Beispiel, die an sechs Standorten der Stadt aufgestellt werden. Oder mit dem größten Kriegsschiff der UK, das nun die Themse ziert, vermutlich um Angriffe von Flugzeugträgern abzuwehren.
Das alles ist löblich, dient es doch der Sicherheit unbeschwerter Wettkämpfe und Völkerverbrüderungen. Allerdings lässt dieses Sicherheitskonzept denn doch auch viele Wünsche offen; Lücken für Terroristen, die es nach Nine Eleven ja eigentlich mehr auf „weiche Ziele“ abgesehen haben – Athleten zum Beispiel. Dagegen wird nun auch in London kaum etwas unternommen. Das wirft Fragen auf, denen wir dieser Stelle – um dem Vorwurf unproduktiven Nörgelns zu wehren – gleich Vorschläge beigeben möchten:
Wäre es nicht sowohl dringend erforderlich als auch ein leichtes, die Sprinter mit – natürlich exakt gleichschweren – schusssicheren Westen an den Start gehen zu lassen? Und die Langstreckenläufer – offenkundig viel besser zu treffen, da länger und langsamer im Stadionrund unterwegs – mit Ritterrüstungen, die in -zig Museen lediglich verstauben? Sollten die Wurfgeräte bei den einschlägigen Sportarten, also Hammer, Speer und Kugel, nicht mit atomaren Sprengköpfen ausgestattet sein, um diese gegebenenfalls den Terroristen vernichtend entgegenschleudern zu können? Sollten Schwimmer nicht besser in maschinell antriebslosen sondern wetteifernd schwimmflossenbewegten Mini-U-Booten agieren?
Sind Pferdesportarten nicht besser unter Tage aufgehoben? Fragen über Fragen, hier eben auch produktive Anregungen über Anregungen. Aber uns fragt ja leider keiner.
Hannes Jost
Mit Akribie und Hysterie
Seit der Plagiatsaffäre um Ex-Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU), die im März des vergangenen Jahres zu seinem Rücktritt führte, wurden zahlreiche prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft des Betrugs überführt. Internetforen wie guttengate und vroniplag haben sich darauf spezialisiert, Doktorarbeiten detailliert auszuwerten und Plagiate öffentlich publik zu machen. Diese Enthüllungskampagnen kommen vielleicht dem deutschen Zeitgeist nach Transparenz im Internet entgegen, von dem jüngst besonders die ansonsten recht meinungslose Piratenpartei profitiert. Doch nach gut einem Jahr der immer eintöniger gewordenen Skandale drängt sich der Verdacht auf, dass die schwer identifizierbaren Internetforen ihre „Opfer“ nicht zufällig aussuchen, sondern ganz bewusst unter liberalen und konservativen Politikern nach schwarzen Schafen fahnden. Oder wie ließe es sich sonst erklären, dass aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken mit Uwe Brinkmann (SPD) nur ein einziger Vertreter und dazu noch einer aus der dritten Reihe in den Strudel der Plagiatsaffären geriet, während auf der anderen Seite der Parteienlandschaft gleich 13 Politiker aus der Landes-, Bundes- und sogar Europaebene des Betrugs überführt wurden?
Seit der Plagiatsaffäre um Ex-Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg (CSU), die im März des vergangenen Jahres zu seinem Rücktritt führte, wurden zahlreiche prominente Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft des Betrugs überführt. Internetforen wie guttengate und vroniplag haben sich darauf spezialisiert, Doktorarbeiten detailliert auszuwerten und Plagiate öffentlich publik zu machen. Diese Enthüllungskampagnen kommen vielleicht dem deutschen Zeitgeist nach Transparenz im Internet entgegen, von dem jüngst besonders die ansonsten recht meinungslose Piratenpartei profitiert. Doch nach gut einem Jahr der immer eintöniger gewordenen Skandale drängt sich der Verdacht auf, dass die schwer identifizierbaren Internetforen ihre „Opfer“ nicht zufällig aussuchen, sondern ganz bewusst unter liberalen und konservativen Politikern nach schwarzen Schafen fahnden. Oder wie ließe es sich sonst erklären, dass aus den Reihen von SPD, Grünen und Linken mit Uwe Brinkmann (SPD) nur ein einziger Vertreter und dazu noch einer aus der dritten Reihe in den Strudel der Plagiatsaffären geriet, während auf der anderen Seite der Parteienlandschaft gleich 13 Politiker aus der Landes-, Bundes- und sogar Europaebene des Betrugs überführt wurden?
Gerade Fälle wie die Untersuchung der Doktorarbeit von Veronika Saß, Tochter des ehemaligen bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (CSU) und Jürgen Goldschmidt (FDP), Bürgermeister der sächsischen Ortschaft Forst scheinen eher aufgrund der Partei- oder Familienzugehörigkeit der Betroffenen als wegen des Verstoßes angestrengt.
Der jüngste Vorwurf gegen Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU) wirkt besonders anrüchig: Obwohl vroniplag nur Doktorarbeiten mit über zehn Prozent Plagiatsanteil anprangert und die Dissertation der Ministerin wesentlich weniger Verstöße aufweist, wurde Schavan von Mitarbeitern des Internetforums Betrug vorgeworfen. Und so erweisen sich erstmals nicht nur die unpolitische Ausrichtung, sondern auch die selbstauferlegten Arbeitsprinzipien der Internetforen als äußerst fragwürdig.
Thomas Zimmermann
Kurze Notiz zu Wettin
Wettin, Hauptort der Agrarstadt Wettin-Löbejün … Selbst der glücklichste Besucher würde hier an einem regnerischen Tag Selbstmord begehen, wenn dieser Ort keinen Friedhof hätte und der arme Fremde nicht fürchten müsste, auf alle Zeit in diesem schrecklichen Wettin bleiben zu müssen.
Wettin, das sind ein paar kümmerliche Häuser und tote Straßenzüge um eine abgewirtschaftete Burg, die einst Stammsitz der Sachsenfürsten war und nun verschiedentlich genutzt wird, zum Großteil aber einfach nur verrottet wie ganz Wettin. Im Burg-Café gibt es kalten Apfelstrudel ohne Guten Tag und Auf Wiedersehen und den Ausblick auf die umliegenden Hügel, leider auch auf die ärmliche Stadt.
Nur um den Marktplatz ist es einigermaßen erträglich. Hier steht der Rathausturm seit 1660, der Wettiner Hof, das Café Werner … und das war’s schon. Der Platz verengt sich zur Johannisstraße, hinter jedem zweiten Fenster starrt jemand auf die leere Straße hinaus … Ach, würde die Saale doch nicht so gnädig an diesem Ort vorüberziehen, würde sie doch einmal mit aller Wucht dieses Häufchen Elend fortspülen – dieser Flecken Erde könnte nur hinzugewinnen.
Thomas Zimmermann
Ernst Rowohlt – ergänzende Petitesse
In der Ausgabe Nr. 13 des Blättchens wurde – völlig zu Recht – des großen, Verlegers Ernst Rowohlt gedacht. Dieser Laudatio könnten weitere positive Aspekte hinzugefügt werden.
Allerdings ist auch das Leben solcher Persönlichkeiten in der Regel keine ununterbrochene Perlenschnur von Verdiensten, wie sie in späteren Laudatien üblicherweise würdigend aneinandergereiht werden. Das war auch bei Rowohlt nicht anders, wobei der nachfolgenden Petitesse vorangestellt werden muss, dass Mitte der 20er Jahre für Buch- und Zeitungsverlage in Deutschland eine wirtschaftlich sehr angespannte Lage bestand und viele Unternehmen um ihren Fortbestand rangen.
Unter dem Datum vom 21. Mai 1926 schrieb der Gründer und Herausgeber der Weltbühne, Siegfried Jacobsohn, an Kurt Tucholsky: „[…] vor Ostern erschien bei mir Rudolf Großmann. Er habe den Auftrag, mich für die ,Literarische Welt‘ zu zeichnen. Er brauchte drei Stunden und kam nach Ostern abermals auf drei Stunden, weil er nicht zufrieden war. Jetzt, vor Pfingsten, treff ich ihn. ,Na, wann erscheint denn mein Bild?’ ,Ich habs noch nicht einmal abgeliefert.’ ,Warum nicht?’ ,Rowohlt schuldet mir für veröffentlichte Bilder dreihundert Mark und ist außerstande, mir drei Mark zu zahlen – wozu soll ich da liefern!’ Unter diesen Umständen bin ich dagegen, daß Du dorthin Artikel [lieferst]. Geld kriegst Du nie, […] und außerdem ist es ein Affront, einen anständigen Schriftsteller in dieser Pinkelschrift – Text Petit, Zitate Nonpareille – zu setzen.“
Und am 22. Mai legte Jacobsohn nach: „Sei froh, daß Du mit Deinen Büchern nicht bei Rowohlt gelandet bist. Gestern war ein Mann bei mir, der von ihm seit undenklichen Zeiten 1800 – achtzehnhundert – Mark zu kriegen hat. Nach furchtbaren Kämpfen hatte er endlich einen Scheck über 120 – hundertzwanzig – Mark in Händen. Und als er den präsentierte, war keine Deckung.“
Alfons Markuske
Wirsing
Was wüßte der normale Deutsche von der Welt, wenn es BUNTE nicht gäbe! Die Illustrierte hat jetzt erstmals die verlassene, aber nach wie vor Angetraute von Bundespräsident Gauck zu Wort kommen lassen. Hansi Gauck lernte ihren Mann in sehr jungen Jahren kennen. „Wir waren 19, als wir geheiratet haben. Ich denke, das wird auch so bleiben“, wird sie von BUNTE zitiert. Warum sollte es auch nicht so bleiben, dass sie damals 19 waren? Naja, Politiker ändern ja die Vergangenheit noch lieber als die Zukunft.
Fabian Ärmel
Medien-Mosaik
Von Iris Berben weiß man seit langem, dass sie nicht nur schön, sondern auch klug ist. Die Präsidentin der Deutschen Filmakademie engagiert sich gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und rechtsextreme Gewalt, auch in vielen Lesungen. Zusammen mit dem Südwestdeutschen Kammerorchester Pforzheim hat sie sich das Programm „Verbrannte Bücher – verfemte Komponisten“ erarbeitet, das an das Schaffen von Künstlern erinnert, die ab 1933 in Deutschland verboten und verfolgt waren. Am 5. August wird sie mit dem Orchester wieder in Worms im Rahmen der Nibelungen-Festspiele auftreten.
Für die, denen der Weg zu weit ist, gibt es das gleichnamige Hörbuch. Unter Leitung von Achim Fiedler erklingen Werke von Karl Amadeus Hartmann, Max Bruch und Ernst Křenek. Berben liest souverän Karl Kraus, Bertolt Brecht, Stefan Zweig, Hermann Kesten und Joseph Roth, aber am meisten erstaunt, wie die Sechzigerin in Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“ die achtzehnjährige Ich-Erzählerin so haargenau trifft, daß man sie vor sich sieht.
In der Auswahl der Autoren ist Tucholsky der einzige, den Iris Berben mit zwei Texten zu Wort kommen läßt. So belustigend wie augenöffnend ist der angebliche Schulaufsatz „Hitler und Goethe“ von 1932: „Goethe ist ein Marxstein des deutschen Volkes, auf den wir stolz sein können und um welchen uns die andern beneiden. Noch mehr beneiden sie uns aber um Adolf Hitler. Hitler zerfällt in drei Teile: in einen legalen, in einen wirklichen und in Goebbels, welcher bei ihm die Stelle u. a. des Mundes vertritt.“ Das einzige Gedicht des Hörbuchs ist Tucholskys „Eine Frage“, das gerade in Zeiten verlogener Bankenrettungsmaßnahmen neue Aktualität gewinnt.
Iris Berben liest: Verbrannte Bücher – verfemte Komponisten, Herder, Freiburg 2011, ca. 90 Minuten, 17,99 Euro
Bernd Böhlich liebt alte Komödianten. Schon als Regisseur im DDR-Fernsehen holte er verdiente Mimen wie Doris Thalmer, Lotte Meyer und Martin Hellberg für letzte Auftritte vor die Kamera. So nimmt es nicht wunder, dass er schon vor elf Jahren ein Szenarium über widerspenstige Alte im Heim (heute Senioren-Residenz genannt) geschrieben hat. Dass die Rentner in seiner Geschichte ein Flugzeug entführen, ließ aber Geldgeber zögern. Dürfte es nicht auch eine Straßenbahnentführung sein? Nun war es endlich möglich, den Film zu drehen, auch wenn einige der Schauspieler, an die Böhlich ursprünglich dachte, nicht mehr zur Verfügung stehen. Otto Sander spielt den Entführer, der vermutlich Angelica „Paula“ Domröse auch gern verführen würde. (Dafür lässt sich Anna Maria Mühe als Pflegeschwester wirklich flachlegen.) Ein sachte erwachendes Heimchen gibt Monika Lennartz an der Seite von Giftzwerg Herbert Feuerstein, dazu kommen Ralf Wolter, Tilo Prückner, Hannes Stelzer und und und. Böhlich läßt alle ihre Stärken ausspielen, so dass man den Alt-Stars gern zusieht. Leider fehlte ihm aber ein guter Dramaturg, der ihn vor einem stilistischen Mischmasch bewahrt hätte. Er hatte wohl eine Tragikomödie im Sinn, aber ihm gelang nur ein moralisierender Schwank. Auch wenn sie ein bisschen daneben sind, will er uns offenbar sagen, so haben auch die Alten einen Anspruch darauf, in ihren Wünschen ernstgenommen zu werden. Leider billigt er ihnen auch das Recht zu, dass man ihre faschistische Vergangenheit gnädig zur Kenntnis nimmt, wenn er den Nestor Herbert Köfer sehr nett darüber schwadronieren lässt, wie er damals Griechenland besetzte, und die immer noch großartige Marion van de Kamp zwischen ihren Volksbühnen-Postern platziert und dazu anerkennend gemurmelt wird, sie habe aber auch bei Goebbels auf dem Schoß gesessen und in (dem Hetzfilm) „Der Arzt von Stalingrad“ reüssiert. Hier werden Filmfigur und Schauspielerin unbotmäßig miteinander vermischt.
Nachdem die Senioren mit der „guten alten Tante Ju“ im Mittelmeer gelandet sind, verläppert sich die Handlung. Aber irgendwie kommt alles noch zu einem bittersüß-wehmütigen Schluss. Es hätte mehr sein dürfen!
„Bis zum Horizont – dann links“, derzeit in zahlreichen deutschen Kinos
bebe
gewandstudie
zerschlissenes webstück
flatternd im schlehengestrüpp
vom wetter gelaugt
zwischen plastik und wind
als wäre auch hier
die nymphe geflohn vor apoll
Lothar Quinkenstein