von Reinhard Wengierek
„Absolut ärgerlich“, schimpfen die einen. „Totaler Wahnsinn“, schreien andere. So geht das alle Jahre wieder im schönen Monat Mai seit 1964, als das Berliner Theatertreffen (TT) gegründet wurde – mitten im kalten Krieg, um in der Halbstadt durch erlesene Gastspiele vorzuführen, was der westlich-deutschsprachige Bühnenbetrieb spitzenmäßig so drauf hatte.
Der Zankapfel von vornherein: Was ist spitzenmäßig? Das nämlich darf eine in ihrer Zusammensetzung wechselnde und vom Veranstalter „Berliner Festspiele GmbH“ berufene Jury aus (gegenwärtig) sieben Profikritikern entscheiden. Nach allein zwei Maßgaben: Zehn Produktionen sind aus der unübersehbaren Masse heraus zu picken; und alle sollen „bemerkenswert“ sein. Fürs „TT 2012“ wurden 428 Aufführungen inspiziert und daraus das zehn vermeintlich Beste gefiltert. Wie man sich denken kann – nach heftigstem Gerangel, hinter dem, was natürlich keiner offen zugibt, auch handfeste Rücksichtnahmen stecken: auf diverse private Netzwerke oder Kostenprobleme, denn der TT-Etat ist bei 1,5 Millionen Euro „gedeckelt“. Deshalb Jubel und Schimpf über die Auswahl, die immerhin sehr viel bedeutet. Gilt sie doch den Betreffenden als ruhmreicher Ritterschlag und erhöht drastisch deren Marktwert und kulturpolitische Akzeptanz. Aber so ist das: In jeder Jury, in jedem Kunstrichter menschelt es; da liegen Unabhängigkeit, Verführung, Bestechlichkeit beängstigend dicht beisammen. Also gellt beständig der Ruf: Schafft den Laden ab!
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Diesmal gellte Claus Peymann (75), Berlins dienstältester und erfolgreichster Theaterdirektor – obgleich als Regie-Star selbst mehrfacher TT-Teilnehmer (ist schon länger her). Peymann meint, wie andere auch, das TT-Geld wäre besser aufgehoben in unseren vielen notorisch unterfinanzierten Theatern (in Berlin beispielsweise gilt allein das Deutsche Theater als auf Augenhöhe mit vergleichbaren Häusern etwa in Stuttgart oder München subventioniert). Außerdem könne man in Berlin ohnehin all das verstreut übers Jahr bewundern, was das ach so „bemerkenswerte“ TT-Tableau zusammenfassend biete. Gut gebrüllt, Löwe!
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Aber: Das TT als immerhin Oscar-ähnlicher Festival-Event bietet alles in allem eben doch eine konzentrierte Leistungsschau der deutschsprachigen Szene. Da kommt alle Welt zum Gucken. Wie auf einer Messe. Und vor allem: Da läuft parallel ein opulentes Rahmenprogramm mit Party, Entertainment, Workshops, Foren, Tagungen, Preisverleihungen und Public Viewing (im Sony-Center, Potsdamer Platz); da gibt es den Wettbewerb neuer Texte (Stückemarkt) sowie das internationale Forum der Bühnenkünstler (de facto ein Talentecampus). Da ist in 18 Tagen von morgens bis weit nach Mitternacht allerhand los im frisch renovierten Festspielhaus – und auch draußen auf Hollywood-Schaukeln unter blühenden Kastanien an der Schaperstraße im Zentrumsbezirk Wilmersdorf. Dieser für Theaterverhältnisse geradezu glamouröse Auftrieb bei lockerer Offenheit, der hat was. Und lockt Publikum in Massen.
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Und noch was prägt das TT 2012: Ein Paradigmenwechsel in der Juryauswahl. Auch der ist freilich umstritten, bildet aber Realitäten ab: Nämlich die prononcierte Einbeziehung freier Gruppen, deren kollektiv, oft in work-of-progress entstandene Produktionen Projekt- oder Werkstatt-Charakter haben, also jenseits vom althergebrachten Stück stehen – wie auch vom Virtuosentum der Stars. So sind diesmal von den zehn TT-Einladungen vier dem so genannten Postdramatischen zuzuordnen. Und das folgt eben nicht dem gewohnten Drama, sondern ist – bestenfalls! ‑ ein besonders artifiziell oder betont klamottig aufbereiteter, heterogener Zusammenschnitt dokumentarisch-journalistischer, auch philosophischer oder poetischer Texte.
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Da reflektiert diesmal das Team von Gob Squad unterschiedliche Lebensverläufe von Kindheit bis Alter durch den Auftritt einer Kinder-Gruppe („Before Your Very Eyes“); der Rechercheur Milo Rau dokumentiert Radio-Hasspredigten aus Ruanda („Hate Radio“); der Texte-Sampler René Pollesch ironisiert in einer Art Sport-Show Entfremdungsphänomene im Internetgewusel („Kill your Darlings!“); das Inszenierungskollektiv Vinge/Müller/Reinholdtsen praktiziert mit zehn- bis zwölfstündigen Ibsen-Schleifen den massiven Ein- und Ausbruch des Performativen ins Literaturtheater, in Ibsens „John Gabriel Borkmann“ („Die Ibsen-Saga“). Diese vier Produktionen – teils erschütternd, teils nervend oder gar peinlich im prekär Gegenwärtigen bohrend – entstanden zwar außerhalb des staatlich subventionierten Theaterbetriebs, wären aber ohne ihn (meist als Koproduzent) auch nicht möglich.
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Zum sagen wir eher klassischen Kanon, wenn auch in – sagen wir – spektakulär ästhetischer Form, gehören die Inszenierungen, die diesmal den alljährlichen Zehner voll machten: Goethes „Faust I+II“ vom Thalia Hamburg (Regie: Nicolas Stemann), Ibsens „Volksfeind“ aus Bonn (Lukas Langhoff), Tschechows „Platonow“, Burgtheater Wien (Alvis Hermanis), die Sarah-Kane-Trilogie „Gesäubert. Gier. 4.48 Psychose“ (Johan Simons) und Shakespeares „Macbeth“ (Karin Henkel), beide Münchner Kammerspiele, sowie die wilhelminische Klamotte „Die (s)panische Fliege“ von Franz Arnold und Ernst Bach (Herbert Fritsch, Volksbühne Berlin).
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Wie draußen im weiten Land und Weltgetriebe also auch im Theater und auf dem Theatertreffen: Es herrscht Unübersichtlichkeit; sonderlich seit Etablierung des multimedial-collagehaft Postdramatischen. Und das neue Merkmal der Jury ist: Sie sucht nicht vordringlich nach dem super perfekten Spitzentanz super perfekter Interpreten, sie ist vielmehr auf der seismografischen Erkundung akuter, mit exzessiv Form sprengender Kraft aufgebrachter Themen. Dennoch aber bleibt uns neben aller ins Schwarze oder gelegentlich Leere stoßender kraftmeierischer Kreativerei der goldene Fonds des unkaputtbaren autonomen Autorentextes von Aischylos bis Zuckmayer; ob nun aufbereitet als performatives Verfremdungs- oder psychologisches Einfühlungstheater. Und es bleiben die Schauspieler, ohne die gar nichts geht.
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Deshalb als Rausschmeißer aus meiner skribentischen Theaterei ums Theater ein Blümchenkranz für die so zartgliedrige Schauspielerin Sophie Rois, eine Österreicherin mit einer Stimme wie Bumskapelle oder Grillengezirp, die nicht nur Wien, sondern vor allem Berlin aufmischt (Volksbühne!) – nun schon seit Jahren und immer wieder wie neu. Eine Lady, die sich aashafterweise gern in einer tantigen Schluppenbluse knipsen lässt. Doch auf der Bühne unterläuft sie gnadenlos die blaublütig höhere Tochter als gar garstige Göre, die jeder noch so verkopft abstrahierten, entindividualisierten Performance-Show ihren Persönlichkeitsstempel reindrückt. Einfach göttlich, wie sie teuflischerweise inmitten allen Rummels das Menschlich-Unmenschliche unvergesslich erschütternd und gern komisch-grotesk auf unsere unheilbar wunden Punkte bringt. Gleich am zweiten Tag vom Theatertreffen bekam sie den „Theaterpreis Berlin 2012“, den ein historisches Erbstück auslobt: nämlich die Preußische Seehandlung, die aus ihrem offensichtlich prallen Zinssäckel immerhin 20.000 Euro Preisgeld locker macht. Kann sich die Rois neue Schluppenblusen und obendrein neue Glitzerpumps kaufen, solche mit Furcht erregender Hackenhöhe. Vor der liegen wir in unendlicher Bewunderung am Boden.
Das Theatertreffen Berlin dauert noch bis zum 21. Mai.