von Erhard Weinholz
Das Wandern ist in Mode gekommen; auf Jakobs- und sonstigen Pilgerwegen kann man, wie ich im Internet las, zu Besinnung und innerer Einkehr finden. Das hatte ich nicht vor, als ich jetzt im Frühherbst drei Tage durch den Landkreis Teltow-Fläming gewandert bin: Ich wollte meine Beine erproben und ein bisschen die Gegend kennen lernen. Letztes Jahr war ich in drei Tagen von Spandau nach Brandenburg / Havel gelaufen, 75 Kilometer, das war zu viel gewesen für den ungeübten Wanderer. Diesmal sollten es nur 46 werden – von Ludwigsfelde über Siethen nach Trebbin, von dort nach Luckenwalde und zuletzt nach Kloster Zinna. Lange hatte ich auf der Suche nach der besten Route über dem Stadtatlas Großraum Berlin gesessen und auf den Karten herumgezirkelt. Vergebene Liebesmüh, wie sich dann immer wieder zeigte.
Am Vortag hatte es kräftig geregnet, für die nächsten Tage aber war Sonnenschein angesagt, also schnell ein paar Einkäufe, packen und los. Bevor ich zum Alex aufbrach, bedachte ich noch einmal den Tagesplan, und mir schien, 15 km seien für den ersten Tag zu wenig. Ein rascher Blick auf die Karte: Ab Teltow S-Bahnhof wären es Pi mal Daumen mal Ofenrohr acht Kilometer mehr, das müsste zu schaffen sein. Aber nun Tempo, Tempo, ich war etwas spät dran. Erst in der Bahn fiel mir ein: Wo war das Sägemesser? Ich hatte nämlich, um Imbisskosten zu sparen, ungeschnittenes Brot, Wurst und Tomaten eingepackt. Lange, vergebliche Suche. Und in der Kaufhalle am Teltower Bahnhof gab es nur Steakmesser, 20 Euro das Stück. Der Messerkauf hat mich noch allerlei Zeit gekostet.
Ansonsten läuft zunächst alles planmäßig: Kurz nach eins stehe ich an der Ruhlsdorfer Straße und brauche die nächsten zwei Stunden einfach nur geradeaus zu laufen. Nach meiner letzten Wanderung hatte ich mir geschworen, nie mehr am Berliner Stadtrand zu starten – aber die Gegend hier in Teltow ist doch abwechslungsreicher als die hinter Spandau: Alte Häuser, Pflanzencenter, Gärten, Automärkte, Wäldchen, pittoreske Neubauten, alles bunt gemischt. Man muss sich den Schönheiten der Mark eben allmählich nähern. Sogar eine Galerie entdecke ich am Straßenrand: „Art und Weise“. Als ich meine Nase ans Fenster pressen will, verfange ich mich in Spinnweben. Und dann kommt ein Schild: „Ludwigsfelde 16 km“. Mhm, das wären bis Trebbin mehr als dreißig. Aber ich kann ja, denke ich, vor Ludwigsfelde einige Zeit den Bus nehmen.
Neubeeren, zwei große Reiterhöfe, der ganze Ort riecht wie ein Pferdestall. Manchmal schien mir später, halb Teltow-Fläming ernähre sich von der Reiterei. Sieben Kilometer sind geschafft, es läuft sich gut am Straßenrand. Der Verkehr ist allerdings beträchtlich: 36 Autos in zwei Minuten. Wo kommen sie her, wo wollen sie hin? Bald darauf wird es mir klar: Es geht – leicht bergan – einer Auffahrt entgegen, zur breit ausgebauten B 101, die wiederum hinführt zum Berliner Ring. Von oben schaue ich nach Süden: Kommt schon die Ludwigsfelder Skyline in Sicht? Leider nicht. Hinter der B 101 lässt der Verkehr schlagartig nach, die Straßenqualität ebenso. Ich durchquere eine sonderbare, leicht verwilderte Landschaft: Gebüsch, Wiesen, manchmal ein paar Bäume; Rieselfelder waren das einst. Kein Mensch ist zu sehen und auch kein Wartehäuschen, kein Haltestellenschild – ich bin wohl vom rechten Wege abgekommen. Doch so einsam der Ort auch ist, Waldesstille herrscht noch nicht: Sirenengeheul ist in der Ferne zu hören und immer wieder Baustellenlärm. An der Baustelle komme ich nach einiger Zeit vorbei – die JVA Heidering entsteht hier. Das klingt wahrlich romantisch: „… lebte etliche Jahre in einem mietfreien Appartement am Heidering.“ Unter solchen und ähnlichen Scherzen nähere ich mich einer Bahnlinie; eine Fußgängerbrücke ist zu erkennen: Das kann nur der Bahnhof Genshagener Heide sein. Aber da wollte ich doch gar nicht hin! In einer Gartenanlage nahebei gibt es beruhigende Auskunft: Siethen? Hier immer geradeaus, drei Kilometer vielleicht. Es lohnt nicht, merke ich alsbald, Einheimische nach Wegen und Entfernungen zu fragen.
Die Bahnlinie, der Berliner Außenring, ist überquert, Ludwigsfelde endlich erreicht, auf der Potsdamer Straße, zwischen Neubauten und nochmals Neubauten wandere ich Richtung Siethen. An einem Backladen mache ich Halt, gönne mir einen Kaffee. Auf der anderen Straßenseite, aha, der Neubau dort, das ist das Rathaus. Rathaus? Liegt denn an der Potsdamer Straße nach Siethen ein Rathaus? Zum wer weiß wievielten Male krame ich die Karte hervor: Im Land Brandenburg führen – dem Namen nach zumindest – viele Straßen nach Potsdam, ich bin auf der falschen, Siethen ist meilenweit entfernt. Ich muss umplanen: Weiter über Kerzendorf und Thyrow. Allmählich wird es Abend. Am Südrand von Ludwigsfelde verweisen Schilder auf Parks: Preußenpark Süd, Preußenpark Nord. Eine richtige Parklandschaft scheint hier entstanden zu sein. Doch für einen Besuch ist es zu spät.
Auf tadelloser, fast autofreier Straße wandere ich hin nach Kerzendorf. Links und rechts meines Weges hohe Wälder, ein Eichelhäher ist zu hören, später ein Specht – nun bin ich wirklich angekommen in der Mark. Nur das Dauergeräusch der nicht weit entfernten B 101 stört noch. Die Sonne ist schon abgetaucht, als ich den kleinen Ort erreiche. Auf dem Dorfanger, im Buswartehäuschen, komme ich endlich zu meinem Abendessen. Einem Essen in aller Öffentlichkeit, doch ist weit und breit nur eine Frau zu sehen, die im Vorgarten werkelt. Die Straße, auf der ich weiterwandere, ist völlig unbefahren – sie endet an der Bahnstrecke, führt aber gottlob dahinter weiter und mündet, es gibt kein Entrinnen, in die B 101. Gegen acht, bei völliger Dunkelheit, lange ich in Thyrow an. Einige Zeit habe ich eine Art Hochsicherheitsareal zur Rechten, begrenzt von einem Zaun aus hohen Eisenstäben, darüber Stacheldraht, hinter dem Zaun Stacheldrahtrollen und dorniges Gestrüpp. Mehr ist nicht zu erkennen. Eine Dependance des BND? Dann ein Knick, und nun zäunt beuliger Maschendraht das geheimnisvolle Gelände ein. Die Sache ist mir ein Rätsel geblieben.
Kurz hinter Thyrow endet der Radweg, auf dem ich bislang ungefährdet neben der Bundesstraße voranschreiten konnte – zum Glück schon hier und nicht erst auf halber Strecke nach Trebbin. Zwar sind es bis dahin nur vier Kilometer, doch bei Dunkelheit direkt am Straßenrand zu laufen käme einem Selbstmordversuch nahe. Ich bin auch reichlich erschöpft. Noch ein Glücksfall: Thyrow ist Bahnstation. Nach längerer Suche auf menschenleeren Straßen finde ich zum Bahnhof, eine Viertelstunde später hält allein für mich ein Regionalexpress, drei Minuten darauf bin ich in Trebbin und nach weiteren drei Minuten im Hotel.