von Ove Lieh
Die ganze Sache wäre nicht der Rede wert, wenn nicht die weitreichenden Folgen wären. Es kommt nämlich Wolf Biermanns Ehrenbürgerschaft in Berlin in Gefahr, wenn sich herausstellt, daß nicht seine Ausbürgerung, die er natürlich bewußt herbeigeführt haben muß, damit sie ihm als Verdienst angerechnet werden kann, den Untergang der DDR-Gesellschaft herbeigeführt hat, sondern die Kinderkrippen – über deren gesellschaftszerstörendes Potential uns Eva Herman aufklären will. Nun liegt vielleicht gerade da das Problem. In der Frage, was Frau H. wirklich will. Will sie uns Ossis unsere Vergangenheit, die sie übrigens nichts angeht, vorhalten, statt uns für das zu loben, was wir inzwischen schon ganz gut können, obwohl sie auch das nichts angeht. Wir haben arbeiten gelernt, können inzwischen mit Geld umgehen, praktizieren auf dem Weg zur Arbeit den aufrechten Gang, aber nur auf dem Weg, im Betrieb lieber nicht, auf dem Weg zum Arbeitsamt, aber lieber nicht drin. Wir vertrauen allen Parteien zusammen noch weniger als damals der einen. Oder will Frau H. wirklich unsere Kinder vor Schaden bewahren, obwohl das nicht ihre Angelegenheit ist. Aber wann wäre ahnungsloses, wenn auch absichtsvolles, Geschwätz je nützlich für Kinder gewesen!?
Natürlich weiß ich nicht wirklich. was Frau H. will, es geht mich ja auch nichts an, aber ich will es trotzdem vermuten. Sie will ihre Bücher verkaufen, sie will öffentliches Interesse wecken, natürlich auch, um ihre Bücher zu verkaufen, vielleicht will sie auch den Eindruck erwekken, daß sie edel und gut und vor allem kinderlieb sei. Was sie auf jeden Fall tut: Sie schert sich überhaupt nicht darum, ob ihre Behauptungen etwas mit der Realität zu tun haben. Sie schert sich nicht um Ergebnisse von Untersuchungen zu den Wirkungen unterschiedlicher Betreuungsbedingungen auf Kinder. Alle Umstände sprechen dafür, daß wir es hier mit einem Phänomen zu tun haben, das Harry G. Frankfurt in einem seit 2006 in deutscher Übersetzung vorliegenden Büchlein untersucht hat, dem sogenannten bullshit (Harry G. Frankfurt: Bullshit, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006).
Er entsteht, »wenn ein Mensch in die Lage gerät oder gar verpflichtet ist, über ein Thema zu sprechen, das seinen Wissensstand hinsichtlich der für das Thema relevanten Tatsachen übersteigt«. »Das Fehlen eines signifikanten Zusammenhangs zwischen den Meinungen eines Menschen und seiner Kenntnisse der Realität wird natürlich noch gravierender bei einem Menschen, der es für seine Pflicht als moralisch denkendes Wesen hält, Ereignisse und Zustände in allen Teilen der Erde zu beurteilen.« Und noch ein letztes Zitat: »Wenn jemand sich exzessiv dem Bullshitten hingibt, also nur noch danach fragt, ob Behauptungen ihm in den Kram passen oder nicht, kann seine normale Wahrnehmung der Realität darunter leiden oder sogar verlorengehen.«
Nun merken Sie schon, daß es eigentlich gar nicht mehr um Frau H., sondern um die Masse der Politiker geht. Viele von denen sind gar nicht so sehr Lügner, wie immer wieder behauptet wird, sondern schlicht und ergreifend Bullshitter. Ob sie das werden, hängt übrigens nicht davon ab, ob sie eine Krippe besucht haben oder nicht. Behaupte ich jetzt einfach mal. Obwohl ich es nicht wirklich weiß. Shit! Bullshit?