von Helmut Höge
Jetzt habe ich die Post vom Finanzamt noch immer nicht geöffnet, obwohl ich sie »gleich nach meinem Urlaub« machen wollte. Meine Freundin Dorothee meinte einmal, als sich bei mir die ungeöffneten Behörden- und Hausverwalterbriefe wieder stapelten, das sei bloße Feigheit. Nein!, verteidigte ich mich, aber als Selbständiger bin ich auf selbstinduzierten Schwung angewiesen, und den darf ich mir zu bestimmten Zeiten nicht durch die Post versauen lassen. Weil Dorothee noch selbständiger ist als ich, guckte sie nur skeptisch. Deswegen zitierte ich den während der Übernahme der Narva-Lichtproduktion mit dem Flugzeug abgestürzten Erfinder der nahezu unsterblichen Glühbirne Dieter Binninger. Nach einem TV-Streitgespräch mit Osram-Managern über die Lebensdauer, das zu seinen Gunsten ausgegangen war, hatte der Konzern ihm das Warenzeichen Vilux für seine 150 000 Stunden brennenden Glühbirnen verboten, weil der Name angeblich ihrer Bilux-Birne zu nahe kam. Binninger klärte mich auf: »Die wollten mir bloß einen Tritt in den Hintern verpassen. So macht man die kleinen Leute fertig. Wenn Sie so einen Brief von der Osram-Rechtsabteilung morgens kriegen, dann ist doch erst mal der Tag gelaufen, das können Sie sich doch vorstellen …« Ja, das konnte ich.
Wie ich ebenso auch mit all den zigtausend Arbeitslosen mitfühlen kann, die sich für ihre Abfindung und einem Bankkredit irgendwo eine Eigentumswohnung haben aufschwatzen lassen, die sie nicht vermietet, geschweige denn wieder verkauft bekommen und nun vor einem Berg Schulden stehen: Bei jedem Brief von ihrer Bank oder Hausverwaltung bekommen sie Panikattacken.
Aber manche männliche Briefaufschlitzhemmung versteh ich nicht. So hat mein Freund Fikret, als er arbeitslos wurde, aber weiter seinen roten Mercedes fuhr, zwei Jahre lang alle Rechnungen, Mahnungen, Knöllchen, Warnungen ungeöffnet in einer riesigen Plastiktüte gesammelt. Was er dann gemacht hat, weiß ich nicht, jetzt scheint es ihm aber wieder einigermaßen gut zu gehen, denn er hat gleich neben der Polizeiwache in der Friedrichstraße ein Musikcafé eröffnet.
Noch unverständlicher war mir die Geschichte von Hella: Sie verliebte sich im Urlaub in einen Mexikaner, genauer gesagt in einen Tarahumara, dem sie regelmäßig Briefe schrieb. Irgendwann lud sie ihn zu sich ein. Und er kam auch tatsächlich: In seinem Koffer hatte er ihre gesammelten Briefe mit – und alle waren ungeöffnet. Selbst für Hella war es ein Rätsel, wie das geschehen konnte, das heißt, wie er es, ohne sie zu lesen, hierher geschafft hatte. Die Ironie will es, daß es als saisonaler Aushilfshausmeister zu meinen Pflichten gehört, täglich die Post zu sortieren. Wenn ich einen Briefumschlag keiner Abteilung zuordnen kann, muß ich ihn öffnen. Fast den ganzen Sommer über ist so der Brieföffner mein Haupthandwerkszeug. Inzwischen kenne ich schon mehrere männliche Selbständige, die Brieföffner regelrecht sammeln. Immer häufiger werden solche Öffner auch über ebay ersteigert: Dabei kann man sich dann gleich auch noch das Gefühl verschaffen, am Computer zu arbeiten. Andererseits zögern seit dem 11.9. immer mehr Leute, zum Brieföffner zu greifen, weil sie befürchten, es könnte eine Briefbombe oder ein mit Anthrax gefüllter Umschlag unter ihrer Post sein.
Im Gegensatz zu Wladimir Kaminer zum Beispiel, der mit einer ganzen Russen-WG im selben Haus wohnt. Deren unalltägliches Verhalten verarbeitet er gerade literarisch zu einem Buch über Russische Nachbarn. Zuvor hatte er bereits in einem anderen die Helden des Alltags thematisiert. Mit dieser Erhöhung wollte er den Alltag wenigstens punktuell transformieren. 1926 gab jedoch Ossip Brik im Zusammenhang mit dem Erfolg des Romans Zement von Gladkow bereits zu bedenken, daß das Verknüpfen von »Heroismus und Alltag« einem starken staatlichen Wunsch nachkomme. Im Falle von Kaminer kam die Kritik von ganz anderer Seite: Seine Tante in Kreuzberg verbot ihm, noch einmal etwas über sie zu veröffentlichen.
Was ich aber sagen wollte: Die sich über Stunden hinziehenden Gespräche mit seiner Russen-WG im Haus beziehungsweise die Unkosten, die ihm dabei entstehen, kann er steuerlich absetzen, indem er die Mitbewohner beispielsweise in sein Lieblingslokal Canta Maggio einlädt und bewirtet: 18.10., 140 Euro, Gespräch über die Zeugen Jehovas, die einmal zu dritt die Russen-WG in der Gleimstraße besuchten – und sie nie wieder verließen. Aber sie leben noch.
Am flottesten geht es bei mir voran, wenn die einzelnen Posten so weit geklärt und sortiert sind, daß sie nur noch zusammenaddiert werden müssen. Dazu leihe ich mir eine Rechenmaschine, die das Ergebnis ausdruckt. Und dieser Ausdruck, der an die Seite mit der per Hand notierten Summe der entsprechenden Ein- oder Ausgaben (zum Beispiel für Büromaterial) getackert wird, bekommt schon allein durch seinen Inhalt (Zahlen) etwas schwer Seriöses. Um das zu unterstreichen, wird der ganze Vorgang abschließend noch in eine Klarsichthülle gesteckt und dann abgeheftet. Umgekehrt soll der SPD-Vorständler Hans-Jochen Vogel jeden »Vorgang« schon quasi vorab in Klarsichtfolien getütet haben. Neulich fand ich auch in einer Jahresetataufstellung der Bundeswehr den Posten »Klarsichtfolien«: Er belief sich auf 480000 Euro. Diese Folien kann man steuerlich absetzen – unter »Büromaterialien«, ein Posten, der bei mir seltsamerweise immer der kleinste ist.
Meine derzeitige »Abgaben-Rückstands-Tilgungsrate« bei ihnen beläuft sich auf 75 Euro monatlich. Anläßlich einer Recherche über den ominösen Blumenladen-Boom in Mitte rief ich beim Auswärtigen Amt in der Französischen Straße an – und bekam einen freundlichen Unterstaatssekretär an den Apparat. Er nahm sich einige Tage Zeit, um mir den Jahresetat des AA für Blumenschmuck herauszusuchen: Es war gar nicht so einfach, »denn viele dieser Posten verstecken sich in Gesamtabrechnungen – von Bewirtungen auf Empfängen,« erklärte er mir und nannte eine Summe, die so hoch war, daß ich allein für die Blumen, die das AA in einem Jahr verbraucht, fast tausend Jahre lang die oben erwähnte Tilgungsrate zahlen müßte. Da ich das allein nicht schaffe, muß ich mir die Summe mit vielen anderen Steuerzahlern – noch zu unseren Lebzeiten – teilen. »Der Minister und seine nächsten Mitarbeiter bekommen täglich frische Schnittblumen auf ihre Schreibtische,« verriet mir der AA-Mitarbeiter noch, der selber nebenbei bemerkt Topfpflanzen bevorzugt.