von Karin Brösicke
Ja, empört Euch, Berliner! Denn etwas Empörendes geschieht in Eurer Stadt. In einer Zeit, wo überall Mangel an Toleranz und steigende Gewaltbereitschaft beklagt werden, wo sich wachsende soziale Probleme zunehmend in dumpfen Ausländerhaß kanalisieren und wo immer mehr Menschen in blinder Wut gegen alles Fremde in rechten Parteien und Gruppierungen eine Alternative suchen, herrscht wahrlich Notstand.
Hauptursache ist die ökonomische Entwicklung. Aber damit allein ist die Ausländerfeindlichkeit nicht zu erklären, ebensowenig wie der Erfolg des von den Medien heraufbeschworenen »Kampfes der Kulturen«. Vieles hat seine Ursachen in fehlendem Wissen über die ursächlichen Zusammenhänge, über fremde Kulturen oder ausländische Mitbürger. Moscheen und Synagogen öffnen sich für Anders- und Nichtgläubige, Museen versuchen, mit Veranstaltungen Vorurteile zwischen den Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen abzubauen, für Verständnis zu werben, Wissen zu vermitteln – und erreichen zumeist doch nur diejenigen, die ohnehin für solche Fragen offen sind.
Bildung ist trotzdem das einzig wirksame Mittel im Kampf gegen Intoleranz und Fanatismus. Wie oft führt Unkenntnis zu Vorurteilen, verwandelt sich in Intoleranz und mündet nicht selten in Gewalt oder gar Terrorismus? Zur Terrorismusbekämpfung sind Staaten in aller Welt bereit und in der Lage, Unsummen von Geldern bereitzustellen, Gesetze zu ändern und sogar die Einschränkung von bürgerlichen Grundrechten in Kauf zu nehmen.
Aber Terrorismus ist das letzte Glied in der Kette. Das Problem beginnt viel früher. Im Augenblick trifft der Berliner Senat eine seiner wenigen Entscheidungen, die auf lange Sicht wirklich etwas verändern könnten, und zwar zum Positiven: Er erwägt – und beschließt hoffentlich auch – die Einführung eines verbindlichen Werteunterrichtes. Der soll Kindern die Möglichkeit bieten, sich von klein auf mit anderen Lebenswelten bekannt zu machen, die verschiedenen Religionen kennenzulernen sowie etwas über ihren gemeinsamen Ursprung zu erfahren. Sie könnten dabei lernen, daß Herkunft, Götter oder Glauben ebensowenig wie die Zugehörigkeit zu anderen Nationen oder Fußball-Fanclubs ein Grund sind, übereinander herzufallen. Es böte sich die Gelegenheit, den Samen der Toleranz zu legen, auch wenn zwei Unterrichtsstunden pro Woche allein nicht genügen werden.
Aber es wäre ein Anfang, den übrigens nicht nur Berlin nötig hat. Es geht um die Vermittlung und die Akzeptanz menschlicher Werte, es geht um Moral.
Von den Kirchen wird Moral immer noch an die (eigene) Religion gebunden. Die christliche Moral stellt mit einem Kondomverbot den Schutz der Empfängnis über den Schutz der Lebenden vor Aids und treibt damit Tausende und Abertausende Menschen in diese bisher nicht heilbare Krankheit. Im Namen der Religion wurden und werden Kriege geführt, Kulturen vernichtet, Menschen getötet – die Geschichte ist voll davon. Präsident Bush beruft sich auf einen Gott und Bin Laden ebenso, Israel tut es, und auch jeder Selbstmord-Attentäter fühlt sich von seinem Gott berufen und beschützt.
All das hat mit Menschlichkeit nichts zu tun. Die Vermittlung religionsunabhängiger, menschlicher Werte ist also nicht nur legitim, sondern dringend geboten! Der Erfolg des geplanten Werteunterrichtes wird allerdings in entscheidendem Maße davon abhängen, wie es gelingt, die Kinder zu interessieren und wirklich zu erreichen – und zwar ohne missionarische Ambitionen christlicher, muslimischer, atheistischer oder sonstiger Art! Wichtig sind also ein gutes Konzept und noch mehr gute Lehrer.
Das wird nicht einfach sein, denn sicher kenne nicht nur ich genügend Beispiele, wie Unterricht nicht sein sollte. Dafür wäre es nötig, einen Bund zu gründen, von mir aus auch einen Notbund. Statt dessen gründen sich hier Notbünde ganz anderer Art: Christen sehen im Werteunterricht eine Verwehrung des Rechtes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und der Bekenntnisfreiheit! Und das, obwohl die freie Wahl des Religionsunterrichtes an den staatlichen Schulen nach wie vor gegeben ist und es jedem freisteht, diesen nach eigener Wahl zu besuchen. Diese Kampagne ist wahrhaftig empörend, ja verantwortungslos! Sie wirft ein sehr schiefes Licht auf christliche Toleranz (obwohl diese ja schon in den eigenen Reihen an der Durchführung eines gemeinsamen Abendmahles scheitert …).
Toleranz wird von einem Teil der Christen offensichtlich nur dann und selbstverständlich von anderen eingefordert, wenn sie den eigenen – missionarischen – Spielraum zu erweitern verspricht. Damit ist einer Stadt wie Berlin aber nicht zu helfen, denn hier pulsiert ein Leben, das nur durch wachsende Toleranz friedlicher werden kann. Der Werteunterricht sollte ein wichtiger Schritt in diese Richtung sein, er verdient unser aller Unterstützung.
Möge jeder an seinen Gott glauben, und sei es der Fußballgott – aber jeder sollte mit seinem und dem Leben seiner Mitmenschen verantwortungsbewußt und respektvoll umgehen wollen. Wenn das erreicht wird, wäre viel gewonnen. Die Haßtiraden, die von Kirchen und Christdemokraten hier im Moment gegen den Werteunterricht gepredigt werden, verdienen Empörung – hoffentlich nicht nur meine!
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