27. Jahrgang | Nummer 20 | 23. September 2024

Eine Dichterin aus Czernowitz in der Bukowina

von Jürgen Hauschke

Er ruft spielt süßer den Tod 

der Tod ist ein Meister aus Deutschland

er ruft streicht dunkler die Geigen

dann steigt ihr als Rauch in die Luft

dann habt ihr ein Grab in den Wolken

da liegt man nicht eng

 

Paul Celan, Die Todesfuge

 

Hundert Jahre ist es her, da kam in der Bukowina in einer armen jüdischen Familie ein Kind zur Welt. Es wuchs zu einer jungen Frau heran, die nur achtzehn Jahre alt werden sollte. Sie starb 1942 entkräftet an Flecktyphus – östlich des Bug in einem deutschen Arbeitslager der Organisation Todt für den Straßenbau Richtung Kaukasus im Osten, das eher ein Vernichtungslager war. Dieses schlimme Schicksal ist – im Grunde genommen – nicht außergewöhnlich zu dieser Zeit. So oder ähnlich erging es unzähligen anderen Menschen.

Die Bukowina war ein östlicher Vorposten der Habsburger Doppelmonarchie. Czernowitz war die Hauptstadt des ehemaligen Kronlands, geografisch gelegen ziemlich genau zwischen Bukarest und Kiew, Krakau und Odessa. In der kulturell bedeutsamen Stadt lebten überwiegend Deutsche, gemeinsam mit Ruthenen (Ukrainer), Polen und Rumänen. Etwa ein Drittel der Bevölkerung war jüdisch. Das damalige kulturelle Zentrum Osteuropas am Rande der bessarabischen Steppe gelangte nach dem Zerfall des Habsburger Imperiums zum Königreich Rumänien. Der Hitler-Stalin-Pakt brachte es 1939 zur Ukrainischen Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion holten sich die rumänischen Verbündeten Hitlerdeutschlands die Stadt 1941 zurück. Das Ende des Weltkriegs brachte einen erneuten Staatswechsel zur UdSSR. Heute gehört die Stadt zur Ukraine. Dieser Galopp durch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts kann nur andeuten, welchen ständigen Veränderungen die Bevölkerung ausgesetzt war.

Das 1924 geborene Kind hieß Selma Merbaum und sollte sich zu einer bedeutenden Dichterin entwickeln, der es aber nicht vergönnt war, ihr Talent zu erwartbar größerer Reife zu entfalten. Überliefert sind lediglich 57 von ihr handschriftlich verfasste Gedichte.

Selmas Großmutter entstammte dem jüdischen Bildungsbürgertum, sie war sehr belesen und musikalisch und wird die Enkeltochter stark in ihrer Entwicklung beeinflussen. In den letzten Lebensjahren lebt Selma bei ihr. Als Schülerin spricht sie „gutes Deutsch“, nicht Jiddisch, das sie aber ebenso beherrscht wie die rumänische Sprache. Bei der Großmutter trifft Selma ihren gut drei Jahre älteren Großcousin Paul Celan, der sich später zu einem der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker entwickeln wird. Ab 1939 schreibt Selma ihre ersten Gedichte. Selma und Paul Celan werden sich ihre Gedichte gegenseitig vortragen. In Czernowitz hat sich eine multikulturelle Gesellschaft ähnlich wie in Prag entwickelt, davon profitiert die Schülerin. Einen Freundeskreis findet sie in einer politisch linken zionistischen Jugendgruppe, Haschomer Hazair, in der sie auch ihre erste Liebe kennenlernen wird.

Der rumänische Antisemitismus und die Rumänisierungspolitik und schließlich die Militärdiktatur unter Ion Antonescu lassen die jungen Leute immer näher zueinander finden, um sich gegenseitig zu unterstützen. Als im Juni 1940 die Rote Armee in Czernowitz einmarschiert, wird sie von den Heranwachsenden freudig erwartet. Selma dichtet wieder intensiv. Doch die Sowjets deportieren bald unliebsame Czernowitzer „Bourgeois“ in die Sibirischen Sümpfe, darunter sind viele Juden. Nach einem Jahr beendet Selma die jüdische Schule – überhastet, denn die Sowjetische Armee verlässt plötzlich den Ort.

Es ist Ende Juni 1941. „Nachrichten über die Gräuel der abziehende Sowjets verbreiten sich genauso rasend schnell, wie die Schrecknisse der herannahenden rumänischen Truppen, die mordend und plündernd Richtung Bukowina zogen.“ Drei Tage lang ist die jüdische Bevölkerung vogelfrei, bestialischer Gewalt und Progromen durch Rumänen ausgesetzt. Der rumänische Sadismus richtet sich vornehmlich gegen Juden, aber auch gegen Kommunisten, soweit sie nicht geflohen waren.

Unter dem Eindruck dieser Geschehnisse verfasst Selma Merbaum ihr berührendes und berühmtes Gedicht Poem. Die Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste der jungen Frau sind voller Tiefe und bewegender Melancholie. Viele weitere Gedichte entstehen in diesen Tagen. In den folgenden Wochen wird in Czernowitz ein Ghetto eingerichtet, erste Deportationen der Juden nach Transnistrien durch die rumänische Militärdiktatur setzen ein. Selma Merbaum überträgt ihre für sie wichtigsten und schönsten Gedichte in ein handschriftliches Album, das sie Blütenlese nennt und ihrem Freund Leiser Fichmann aus der Jugendgruppe widmet.

Im Sommer 1942 werden Selma, ihre Mutter, ihr Stiefvater und Verwandte wie viele andere zuvor nach Transnistrien deportiert, dann als dem Tod geweihte Arbeitssklaven in das von Deutschen geführte Zwangsarbeitslager Michailowka verschleppt. Am 16. Dezember 1942 stirbt sie dort ausgezehrt und geschunden und wird in einem Massengrab beerdigt. Das damalige Transnistrien ist nicht mit dem heutigen Gebiet gleichen Namens identisch. Es umfasste eine große Region zwischen Dnestr, Bug und dem Schwarzen Meer und war eine „Gabe“ Hitlers an seinen Verbündeten Antonescu für dessen vasallenhafte Kriegsbeteiligung.

Durch wundersame Zufälle überdauerte das Album mit den handschriftlichen Gedichten die wirren Zeiten des Weltkriegs und danach, schließlich gelangte es nach Israel. Ein Gedicht daraus, Poem, bewahrt Selma Merbaum vor dem Vergessenwerden. Erstmals 1968 wurde Poem publiziert, als der DDR-Schriftsteller Heinz Seydel eine Anthologie zusammenstellte aus „moralischer und geistiger Verpflichtung“ gegenüber den Juden. Seydel hatte international dazu aufgerufen, ihm Verse, die die „Judenverfolgung des Dritten Reiches im Gedicht“ dokumentiert hatten, die „in der faschistischen Nacht geschrieben wurden“, zu übermitteln. Sein Buch hieß „Welch Wort in die Kälte gerufen. Die Judenverfolgung des Dritten Reiches im deutschen Gedicht“ und erschien im Ostberliner Verlag der Nation.

Acht Jahre später erschien ein Privatdruck mit Selmas Gedichten in Israel, 1980 erreichten die überlieferten Gedichte eine breite Öffentlichkeit durch deren Herausgabe, die der Exil-Forscher Jürgen Serke bei Hoffmann und Campe in Hamburg besorgte: „Ich bin in Sehnsucht eingehüllt“. Die ersten Veröffentlichungen erfolgten unter dem Autorennamen Selma Meerbaum-Eisinger.

Die Biografin Marion Tauschwitz weist in ihrem Bucht im Detail und nachvollziehbar darauf hin, dass Selma zu ihren Lebzeiten stets den Namen Selma Merbaum führte und niemals den Namen ihres Stiefvaters Eisinger. Auch die Vokalverdopplung in Meerbaum geht auf einen späteren Übertragungsfehler zurück.

Marion Tauschwitz hat die mit vielen Hindernissen verbundene, einem Abenteuer gleichende Reise von Selmas Album und die einer Odyssee gleichenden Geschichte dieser Rettung detailliert beschrieben. Die Biographie von Selma Merbaum erzählt sie einfühlsam und um viele neue Nuancen erweitert.

Ein besonderes Verdienst ist die neue Transkribtion von der Originalquelle, die die Korrektur einiger alter Übertragungsfehler ermöglichte. Tauschwitz bleibt in ihrer Biographie oft dicht an den Gedichttexten, auch um diese als biographische Quelle zu nutzen. Ob dies in jedem Fall gerechtfertigt ist, bleibt schwer zu beurteilen, ist aber in diesem Fall sicher ein legitimes Mittel.

Die bekannte Lyrikerin Hilde Domin hatte Jürgen Serke auf Selma Merbaum aufmerksam gemacht. Marion Tauschwitz, eine Vertraute Domins, publizierte drei Jahrzehnte später die umfassende Biografie zu Hilde Domin. Gerade erschien im Verlag Zu Klampen eine aktualisierte und erweiterte Neuauflage der sehr lesenswerten Biografie zu Selma Merbaum. In dem Buch sind alle 57 Gedichte enthalten. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat rundet den Text ab.

Über die jüdische Dichterin Rose Ausländer, ebenfalls eine Czernowitzerin, gibt es einen hoch informativen Dokumentarfilm unter dem Titel „Der Traum lebt mein Leben zu Ende“. Es ist ein Vers von unzähligen ihrer Dichtung. Marion Tauschwitz greift ihn auf und stellt ihn ihrem Buch über Selma Merbaum als Motto voran.

Marion Tauschwitz: Selma Merbaum. Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Biografie und Gedichte. Zu Klampen Verlag, aktualisierte und erweiterte Neuauflage, Springe 2023, 360 Seiten, 28,00 Euro.