21. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. April 2018

„Das Kapital“ – Fibel und Bibel

von Ulrich Busch

Es gibt mehrere Wege und Methoden, um einen großen Denker kennen zu lernen: die Lektüre seiner Schriften, seine Biografie, die Wirkung auf die Nachwelt, Zeugnisse von Zeitgenossen und anderes mehr. Den direktesten Weg zu Karl Marx dürfte jedoch das Studium seines Hauptwerkes „Das Kapital“ bilden. Dieses ist durch nichts zu ersetzen, durch kein Lehrbuch, keine Biografie, keine Vorlesung, keinen noch so klugen Kommentar, kein Comic und kein Hörbuch. Man muss selbst lesen, und zwar gründlich und genau, was Marx geschrieben hat, wenn man sein Denken verstehen will. Und was eignet sich dafür besser als das „Kapital“, auf dessen Ausarbeitung Marx mehr als die Hälfte seines Lebens verwendet hat? – Ich lernte das „Kapital“ schon frühzeitig kennen: Die drei Bände standen im Bücherschrank der elterlichen Wohnung. Als Jugendlicher blätterte ich auch gelegentlich schon mal darin, richtig studiert habe ich das Werk aber erst während meines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums. Die Lektüre eines anspruchsvollen theoretischen Werkes bedeutete für uns Studenten damals eine große Herausforderung. Wir übten uns darin anhand des „Kapital“, das uns dadurch zur „Fibel“ wurde, zu einem Lehrbuch für wissenschaftliches Lesen.
In meinem Studiengang gehörte das Fach „Politische Ökonomie“ nicht zur obligatorischen ML-Ausbildung, sondern bildete über acht Semester eine Disziplin für sich. Hinzu kam ein tüchtiges Pensum Selbststudium, insbesondere der drei Bände des „Kapital“. Dies begann im ersten Semester bei Prof. Dieter Klein, der kein Lehrbuch akzeptierte, und fand in den Klassiker-Seminaren der höheren Semester seine Fortsetzung. Später habe ich im Team von Prof. Hans Wagner, einem exzellenten „Kapital“-Exegeten, selbst „Kapital“-Seminare gegeben. Fünfzehn Jahre lang. Dies brachte mir eine gewisse Sicherheit im Umgang mit dem Stoff. Man wird dadurch sozusagen „kapitalfest“. Im Rückblick denke ich, dass der hohe Anspruch und der sich streng am Text orientierende Charakter dieser Seminare für viele Studenten eine Überforderung bedeutete. Auch waren die Seminare für das Verständnis der sozialistischen Planwirtschaft nur von untergeordneter Bedeutung. Unstrittig aber ist, dass es sich hierbei, auch hinsichtlich der historischen und methodischen Implikationen, um ökonomische Theorie gehandelt hat, was von einigen anderen ökonomischen Disziplinen nur bedingt behauptet werden kann. Leider wurde dies von manchem Hochschullehrer und Studenten verkannt und die Politische Ökonomie als „Wirtschaftsideologie“ oder bloße „Theorie der Wirtschaftspolitik“ interpretiert. Dabei geht der Begriff „Politische Ökonomie“ auf den französischen Ökonomen Antoine de Montchrétien zurück, der ihn 1615 im Titel seines „Traicté l’oeconomie politique“ verwendete und damit in die Wissenschaft eingeführt hat, um die auf die gesamte Gesellschaft resp. Volkswirtschaft abstellende Theorie von der unternehmensbezogenen Haus- resp. Betriebswirtschaftslehre abzugrenzen. Später wurde der Terminus von den englischen Physiokraten und Klassikern übernommen und als „Political Economy“ weitergeführt. In diesem Sinne existiert er noch heute als Synonym für die Begriffe „Staatswirtschaftslehre“, „Nationalökonomie“ und „Volkswirtschaftslehre“.
Im System der Wirtschaftswissenschaften der DDR bildete die Politische Ökonomie eine theoretische Grundlagendisziplin und fungierte das „Kapital“ als „Bibel“. Dies hat zu manchem Missverständnis geführt, auch in Bezug auf die Marx’sche Terminologie. Indem Marx seinem Werk den Untertitel „Kritik der politischen Ökonomie“ gab, wollte er sich nicht etwa von dieser Disziplin abgrenzen, sondern stellte er sich bewusst in deren Tradition, ähnlich wie Immanuel Kant sich mit seiner „Kritik der reinen Vernunft“ in der Tradition einer Philosophie der Vernunft sah und nicht etwa als deren Gegner. Daher ist das „Kapital“ ohne das im Untertitel genannte theoretische Erbe der vormarxschen politischen Ökonomie überhaupt nicht rezipierbar. Für ein solches Herangehen aber fehlte in der DDR zumeist das Verständnis, weshalb die „Kapital“-Lektüre zunehmend zu einer Art „theosophischer Orthodoxie“, zu einer theoretischen Übung ohne Kontext und praktischen Sinn, verkam. Denen aber, die sich in dem Werk auskannten, bot es immer auch genügend Stoff für Gesellschaftskritik. So wie einst die Bibel keineswegs nur das ultimative Buch der Kirche war, sondern immer auch das der Häretiker, so war das „Kapital“ im Staatssozialismus nicht nur das Flaggschiff der offiziellen Theorie und Ideologie, sondern zugleich auch eine Quelle der Gesellschaftskritik. Da ich dies immer schon so gehandhabt habe, hat mir zum Beispiel ein Gastvortrag über das „Kapital“ von Karl Marx im Karl-Marx-Jahr 1983 an der Parteihochschule „Karl Marx“ ein Vorlesungsverbot an dieser Einrichtung eingetragen. Meine Beschäftigung mit dem „Kapital“ wurde mir dadurch aber nicht verleidet. Ich bin noch heute stolz darauf, einigermaßen „kapitalfest“ zu sein. Dies unterscheidet mich unter anderem von vielen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlern westlicher Provenienz. Die anmaßende Ignoranz, mit der zum Beispiel einige Autoren der „Marx-Kolumne“ in der Berliner Zeitung regelmäßig bekennen, eigentlich nichts über Marx zu wissen und keines seiner Bücher gelesen zu haben, schon gar nicht das „Kapital“, trotzdem aber darüber schreiben, befremdet mich. Ebenso wenig vermag ich die Position zu teilen, wonach die Lektüre des ersten Bandes des „Kapital“ ausreichen würde, um über Marx‘ ökonomische Theorie urteilen zu können. Einige Sozialwissenschaftler aber kennen die anderen Bände und die Vorarbeiten dazu nur vom Hörensagen und halten sich lieber an die Frühschriften von Marx als an dessen Hauptwerk, das eben drei Bände umfasst und nicht nur einen.
Auch nach 1990, als die marxistische Politische Ökonomie und die „Kapital“-Seminare längst vom Lehrplan verschwunden waren, hat mir die Kenntnis des Werkes geholfen, ökonomische Probleme zu verstehen. Trotz grundlegend veränderter Rahmenbedingungen erweist es sich als vorteilhaft, mit dem „Kapital“ so etwas wie einen theoretischen Kompass zu besitzen, um die gesellschaftliche Entwicklung zutreffend zu deuten – auch wenn dieser Kompass bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt und nicht alle neueren Phänomene mehr korrekt anzeigt. Eine derartige Einschränkung des Erklärungswertes des „Kapital“ erscheint mir angebracht. Trotzdem ist es auch heute noch die beste „Enthüllungs-Story“ des Kapitalismus.