21. Jahrgang | Nummer 8 | 9. April 2018

„Briefe an einen Kinoschauspieler“

von Bettina Müller

„Du, ich hab Dich so furchtbar lieb! Möchtest Du mir nicht ein einziges Mal ein Küsschen geben? Mein Muttchen ist gestorben – und ich bin so allein!“ Es war der Schauspieler (Hans Walter) Conrad Veidt, der das Küsschen geben sollte. Ein bizarrer Wunsch, denn Veidt kannte weder die Schreiberin noch ihr „Muttchen“ persönlich.
Der vor 125 Jahren in Berlin als Sohn eines Feldwebels geborene Schauspieler zählte nach seinen Anfängen an Max Reinhardts Deutschem Theater in den 1920er Jahren zu den erfolgreichsten deutschen Filmstars. In seiner Jugend konnte er sich gegen seinen Vater, einem strammen preußischen Soldaten und späteren Kanzleisekretär beim Berliner Gesundheitsamt, durchsetzen, der den künstlerischen Neigungen seines Sohnes äußerst skeptisch gegenüberstand. 1917 starb Philipp Heinrich Veidt in seiner Wohnung an einer Gasvergiftung und erlebte den Erfolg seines Sohnes nicht mehr. Mit seiner ungewöhnlichen Physiognomie traf Veidt offensichtlich genau den Nerv der Zeit. Weder glatter Schönling noch starker Held, eher groß und ausgemergelt wie ein Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, gelang es ihm im Kino, vor allem die Damenwelt in Entzückung zu versetzen. Seine Rollenauswahl war oft mutig, zeigte jedoch auch, dass Veidt dabei Wert auf künstlerischen Anspruch legte.
Die Fans waren oft grenzüberschreitend in ihren Briefen. Sie wollten ihr Idol nicht nur treffen und/oder küssen et cetera – eine wollte sogar für ihn backen –, sondern bestanden fast schon vehement darauf, ihn genau zu kennen, bis es einem fast schwindlig wird vor lauter Anhänglichkeit, Vertrautheit und Passion: „Sie sind so gut, daß ich es einmal wage, Ihnen mein Herz auszuschütten“, „Ich bete Sie an, mir zum Leide und der Welt zum Trotz“. Sträubte sich der Star bzw. schrieb er nicht unverzüglich zurück, war der Zorn groß und die Liebe schnell erkaltet: „… bitte ich Sie nur noch, mir mein Bild [..] unter Benutzung des nochmals angefügten Freibriefumschlags zu retournieren.“ Wahrscheinlich ging ein Aufschrei der Empörung durch das gesamte Heer einsamer Herzen, als Conrad Veidt am 10. Juni 1919 in Charlottenburg die Schauspielerin Auguste Marie Christine Holl heiratete, die zum engen Freundeskreis von Kurt Tucholsky gehörte. Tucholsky schätzte „Gussy“ Holl als hervorragende Interpretin seiner Chansontexte sehr, einer ihrer Gassenhauer war das von ihm getextete Dirnenlied „Zieh’ dich aus, Petronella“. Conrad Veidt fand nun vereinzelt auch Eingang in Tucholskys Werke (zum Beispiel „Die Dicken“, Die Weltbühne vom 15.12.1921), Tucholsky wiederum erhielt Einblick in die mitunter seltsame Fanpost, die Veidt vermutlich Körbeweise erhielt, und Peter Panter destillierte daraus „Briefe an einen Kinoschauspieler“, einen Beitrag, der am 25. Dezember in der Berliner Volkszeitung erschien und aus dem hier zitiert wird.
Von dem Film „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (1920) war Tucholsky begeistert. Darin ist optisch alles aus den Fugen geraten mit zum Teil verstörenden expressionistischen Szenenbildern. Veidt schleicht als Wesen namens Cesare durch die Nacht, eine Jahrmarktsattraktion, die in einem Sarg schläft und auf Geheiß des satanischen Dr. Caligari mordet. Eine große, schlanke, fast katzenhafte Gestalt, bedrohlich und Mitleid erregend zugleich, mit langen schwarzen Augenlidern, die den Fans nicht verborgen blieben: „…und mit Entzücken träume ich von Ihren schwarzen Augenlidern, die sich beinahe wie aus Angst so seltsam schmerzhaft auf die Wangen senkten. Ich bete Sie an, mir zum Leide und der Welt zum Trotz.“ In einer Szene reißt Cesare nach langem tiefen Schlaf die schwarz umrandeten Augen auf, woraufhin damals eine Kinobesucherin in Ohnmacht fiel.
Dieser ästhetisch revolutionäre Film erzeugte nicht zuletzt eine starke Sogwirkung. Die Bilder setzten sich im kollektiven Unterbewusstsein der Kinogänger fest, viele konnten die Rolle des Dr. Caligari nicht mehr von dem Privatmenschen Conrad Veidt unterscheiden, dem ungefragt Eigenschaften angedichtet, Hoffnungen und Wünsche aufgezwungen wurden: „Da ich die Einsamkeit nicht mehr ertragen kann, wage ich es, an Sie zu schreiben, denn Sie müssen verstehen können.“
1927 versuchte Veidt, sich von seinem, ihm mittlerweile auch lästigen dämonischen Image loszusagen, das ihm vor allem seine Rolle als Cesare beschert hatte. In seiner ersten Biographie, geschrieben von Paul Ickes, ließ er sich als braver Familienvater portraitieren. Weitere Gerüchte um seine Person hatten auch die so genannten „Sittenfilme“ des Regisseurs Richard Oswald geschürt, vor allem „Anders als die Andern“. Veidt gab in diesem Streifen einen homosexuellen Musiklehrer, der sich in einen seiner Schüler verliebt und schließlich von einem Erpresser (Reinhold Schünzel) in den Freitod getrieben wird.
Die politischen Verhältnisse, die 1933 im Machtwechsel endeten und die schon Tucholsky in die Emigration getrieben hatten, bedeuteten auch das Karriere-Ende für Conrad Veidt. Seine Mitwirkung an dem englischen Film „Jew Süss“ unter der Regie von Lothar Mendes, nicht zu verwechseln mit dem antisemitischen deutschen Machwerk „Jud Süß“, besiegelte sein Schicksal endgültig. Mit seiner dritten Ehefrau Lily Prager, die jüdischer Herkunft war, verließ er Deutschland zunächst in Richtung London, später ging er in die USA. Seine Heimatstadt Berlin hat er nie wieder gesehen.
Vor 75 Jahren, am 3. April 1943, starb Conrad Veidt in Hollywood an einem Herzinfarkt. Zu DDR-Zeiten gab es Bestrebungen, seine Urne nach Berlin zu überführen, doch dies verlief im Sande. Mit finanzieller Hilfe der amerikanischen Conrad-Veidt-Society wurde sie schließlich 1998 nach London in das Kolumbarium des Golders Green Krematoriums überführt.

Bettina Müller, Jahrgang 1967, ist von Beruf Fremdsprachensekretärin und arbeitet als Verwaltungsangestellte an einer großen Universität. In ihrer Freizeit ist sie schreibend unterwegs – mit einem Faible für die Weimarer Republik. Die Autorin, unter anderem Mitglied der Kurt Tucholsky-Gesellschaft, lebt in Köln.