21. Jahrgang | Nummer 4 | 12. Febuar 2018

„Wir sind meilenweit auseinander …“

von Mathias Iven

Im Frühjahr 1895 findet in der Bremer Kunsthalle die erste Ausstellung der wenige Monate zuvor gegründeten Künstlervereinigung Worpswede statt. Zu den Besuchern dieser Exposition gehört auch die angehende Malerin Paula Becker. Am meisten beeindrucken sie die Werke von Fritz Mackensen und Heinrich Vogeler. „Sonst interessierte mich“, teilt sie ihrem Bruder mit, „noch riesig ein Modersohn. Der hat die verschiedenen Stimmungen in der Heide so schön geschildert, sein Wasser ist so durchsichtig und die Farben so eigenartig.“
Zwei Jahre später, im Juli 1897, macht sie sich auf nach Worpswede. Die erste Begegnung mit Otto Modersohn ist kaum mehr als ein flüchtiges Zusammentreffen. In ihrem Tagebuch notiert sie: „Ich habe nur in der Erinnerung etwas Langes in braunem Anzuge mit rötlichem Bart.“
Im Jahr darauf kommt Paula Becker erneut nach Worpswede – doch dieses Mal soll es für länger sein. Sie stürzt sich, unterstützt und angeleitet von Mackensen, in die Arbeit. Als Ergebnis seiner „Korrektur“ steht für sie Ende 1898 fest: „Mir soll die Natur größer werden als der Mensch. Lauter aus mir sprechen.“ Eine Haltung, wie sie auch von Modersohn vertreten wird: „Das ist u. bleibt mein Ziel u. Str[e]ben: Ich will nicht im Sinne der meisten Landschafter nur große Stimmungen malen, das atmosphärische, das Wetter sondern ich will dieses verbinden mit dem Streben nach Formen, mit den intimen, reichen Reizen der Einzelheiten.“
In diesen Monaten freundet sich Paula Becker mit Clara Westhoff an, die gleichfalls Schülerin von Mackensen ist. Gemeinsam reisen sie im Januar 1900 nach Paris, wo Becker an der Académie Colarossi studiert. An den Nachmittagen besucht sie Museen und Galerien. Für ihre weitere künstlerische Entwicklung wird die Begegnung mit den Bildern von Cézanne am folgenreichsten. „Paula“, so erinnert sich Clara Westhoff später, „hatte ihn auf ihre Art entdeckt; und diese Entdeckung war für sie eine unerwartete Bestätigung ihres eigenen künstlerischen Suchens.“
Am 14. Juni 1900, kurz bevor Becker und Westhoff nach Worpswede zurückkehren, stirbt mit nur 32 Jahren Modersohns Frau Helene. Seinem Tagebuch ist zu entnehmen, dass er bereits unmittelbar nach ihrem Tod Paula Becker als zukünftige Lebenspartnerin ins Auge fasst. Doch ganz schlüssig scheint er sich nicht zu sein, heißt es doch an einer Stelle: „Wir sind meilenweit auseinander in unseren Ansichten über Leben u. Menschen.“ Und dennoch. Am 12. September findet die Verlobung statt, am 25. Mai 1901 werden sie in Bremen getraut. Modersohn bringt seine zweijährige Tochter Elsbeth mit in die Ehe.
Zehn Monate später. Unter dem Datum des 30. März 1902 zieht Paula Modersohn-Becker eine vorläufige Bilanz: „Es ist meine Erfahrung, daß die Ehe nicht glücklicher macht. Sie nimmt die Illusion, die vorher das ganze Wesen trug, daß es eine Schwesterseele gäbe. Man fühlt in der Ehe doppelt das Unverstandensein, weil das ganze frühere Leben darauf hinausging, ein Wesen zu finden, das versteht.“ – Der Bruch vollzieht sich langsam. Erst als sie im Februar 1906 zum vierten Mal nach Paris aufbricht, steht ihre Entscheidung fest: „Nun habe ich Otto Modersohn verlassen und stehe zwischen meinem alten Leben und meinem neuen Leben.“ Im September dann die geradezu verzweifelte Bitte: „Gieb mich frei, Otto. Ich mag Dich nicht zum Manne haben.“
Otto Modersohn kämpft um seine Frau. Er folgt ihr nach Paris. Sein einziger Wunsch lautet: „Laß uns frei ohne Vorurtheil gegenübertreten und sehen, ob wir uns finden.“ In seinem nur wenige Zeilen umfassenden Reisetagebuch, das Auskunft über die Ereignisse zwischen Oktober 1906 und März 1907 gibt, vermerkt er: „mit Paula wurde alles alsbald gut“. Von Trennung keine Rede mehr. Einzig Clara Westhoff, die seit April 1901 mit Rilke verheiratet ist, erfährt den wahren Grund für Paulas Rückkehr in ihr früheres Leben: „Ich habe diesen Sommer gemerkt, daß ich nicht die Frau bin alleine zu stehn. […] Ob ich schneidig handle, darüber kann uns erst die Zukunft aufklären. Die Hauptsache ist: Stille für die Arbeit, und die habe ich auf die Dauer an der Seite Otto Modersohns am meisten.“
Mit der Wiederannäherung einher geht die Erfüllung eines lang gehegten Wunsches. Wenige Wochen vor der Rückkehr nach Deutschland kann sie ihrer Mutter mitteilen: „vielleicht wirst Du im Oktober schon wieder Großmutter“. Mathilde Modersohn kommt am 2. November 1907 in Worpswede zur Welt. Knapp drei Wochen später, am 20. November 1907, stirbt Paula Modersohn-Becker an einer Embolie. Otto Modersohn verlässt nach ihrem Tod Worpswede und heiratet 1909 ein drittes Mal, er stirbt am 10. März 1943.

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Vor kurzem wurde die erstmals in „eine dialogische Form“ gebrachte, durch Auszüge aus ihren Tagebüchern ergänzte und bis dato teils unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Otto Modersohn und seiner Frau Paula Modersohn-Becker veröffentlicht. Die Publikation des fast lückenlos erhaltenen, rund 160 Schriftstücke umfassenden Briefverkehrs füllt eine entscheidende Lücke in der Primärliteratur. Dokumentiert werden vor allem die Zeiten, in denen die Ehepartner räumlich voneinander getrennt waren. Das betrifft in erster Linie die vier Paris-Aufenthalte Modersohn-Beckers, die sie sich zwischen 1900 und 1906 insgesamt 16 Monate in der französischen Hauptstadt aufhielt. Die Briefe, so Gisela Götte in ihren einleitenden Bemerkungen, spiegeln einerseits „die facettenreiche Gemeinschaft zweier sehr unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten wider, die das jeweils eigene Profil auch während ihrer Ehe zu bewahren wussten“. Auf der anderen Seite sind sie „spannungsreiche Zeugnisse der persönlichen und künstlerischen Entwicklung beider Briefpartner, ihrer Erfahrungs- und Lebensgeschichten“.
Alles in allem sind sie ein Muss für die Bibliothek eines Jeden, der sich für Worpswede und seine Künstler interessiert.

Paula Modersohn-Becker – Otto Modersohn: Der Briefwechsel, Insel Verlag, Berlin 2017, 486 Seiten, 32,00 Euro.