20. Jahrgang | Nummer 24 | 20. November 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Goldschatz, eine Normaluhr und Lenins Matratzengruft…

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Im Mittelalter-Saal des Berliner Neuen Museums steht neuerdings auf rotierendem Drehpodest ein leerer Sessel aus edlem Holz. Für Johannes Freiherr von Diergardt. Der rheinländische Aristokrat aus steinreichem Hause war Weltenbummler, Schöngeist, Kunstsammler (seine Sippe machte Geld im Samt- und Seidenhandel); inzwischen ist er, Jahrgang 1859, seit 83 Jahren tot. Doch seine mit dickem Scheckbuch und profunder Kenntnis um 1900 zusammengetragene Kollektion kostbarster Preziosen, vor allem Goldschmuck aus der Völkerwanderungszeit, gehört noch heute zur weltweit wichtigsten ihrer Art. Sie war als großzügige Leihgabe eine Zierde des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte. Und wenn der Freiherr in der Reichshauptstadt weilte nahm er sich – außerhalb der Öffnungszeiten – einen Stuhl, um in aller Ruhe seine Kostbarkeiten zu besichtigen.
Deshalb jetzt das leere Sitzmöbel quasi zum Andenken an ihn inmitten der kleinen großartigen Schau „Die Krone von Kertsch. Schätze aus Europas Frühzeit“. Sie zeigt von der weltberühmten, 6600 Artefakte umfassenden Diergardt-Sammlung 600 illustre Exponate – alles tolle Hingucker: Im Mittelpunkt der einzigartige, total modern anmutende Kopfschmuck aus Gold und Edelsteinen aus einem Grabungsfund auf der Halbinsel Kertsch am Schwarzen Meer.
Leider ging den Berlinern im Herbst 1934 die freiherrschaftliche Sammlung verloren. Weil die Erben aufgrund des unbegreiflicherweise zögerlichen Interesses der Museumspolitiker ihren Schatz ans Kölner Wallraf-Richartz-Museum verkauften. Dort bildeten die Objekte den Grundstock des heutigen Römisch-Germanischen Museums. In seiner grandiosen Dauerpräsentation sind sie bis heute zu bewundern. Doch die gegenwärtig anstehende Generalsanierung des RGM bietet jetzt – nach acht Jahrzehnten – glückliche Gelegenheit, die kleinteiligen Wunderwerke uralter Handwerkskunst wieder am Ufer der Spree zu bestaunen.
Nebenbei bemerkt: Die Übersiedlung der Kollektion Diergardt einst nach Köln hatte doch ihr Gutes. Wäre sie in Berlin verblieben, hätte sie 1945 die sowjetische Kriegstrophäen-Kommission wie Schliemanns Schatz von Troja in ihre Beutekunstsammlung vereinnahmt. So aber verblieb alles in Deutschland, in Köln – und ist als Sonder-Schau jetzt für zwei Jahre, dank der rheinischen Kooperation, in Berlin.

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Ein Jahrhundert lang gehörte sie zum Stadtmobiliar an Dutzenden Plätzen Wiens: Die so genannte Würfeluhr; anno 1907 die erste beleuchtete und zentral gesteuerte Elektrouhr. Das seit 1910 angezeigte Wort „Normalzeit“ bezieht sich auf die damals überall in der Monarchie eingeführte einheitliche Uhrzeit; zuvor galten unterschiedliche Zeiten in den Kronlanden. Dass die Uhr keine Ziffern mehr hatte sondern Striche war übrigens ein Wunsch der Wiener: Kaiser Franz Joseph ließ die Bürger über das moderne Design abstimmen.
Doch weil heutzutage fast alle ohne Uhr am Arm nur noch aufs Handy starren, begann man schon vor Jahren mit der Demontage der würfeligen Zeitansager. Was folgte war ein Aufschrei. Ein Herzstückchen werde ihnen genommen, heulten die Wiener. Ihre Stadtverwaltung besann sich und sorgte dafür, dass von einstmals 78 nunmehr neun Uhren (eine davon direkt gegenüber der Staatsoper) weiterhin auf ihren Masten thronen dürfen. Der Rest landete im Schrott – aber nicht gänzlich. 35 Würfel mit ihren markant abgerundeten Ecken überlebten vergessen in einem Depot. Ein Wiener Kunsthändler entdeckte sie und kaufte sie auf, ohne zu ahnen, was für ein Potenzial in den 1907 entworfenen Uhren als Kult- und Sammlerobjekt steckt.
2015 brachte er, angeblich aus einem Bauchgefühl heraus, einen der Würfel zur Kunstmesse in New York. Nicht nur die New York Times war begeistert… Die Rarität brachte viel Geld, und ein Designer kam auf die Idee, den Würfel verkleinert als Armbanduhr in einer Auflage von sinnigerweise 1907 Stück herauszubringen. Ein Verkaufserfolg, sogar im MoMA-Shop. Inzwischen wird die Uhr als Wien-Souvenir auf Teetassen und Weingläser gedruckt und natürlich als Chronometer fürs Handgelenk fleißig vermarktet. Ein Weingut produziert einen Roten mit dem Ziffernblatt auf dem Etikett und dem Spruch „Anytime is Wine Time in Vienna“.

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Milo Rau, 40 Jahre alt, aus der Schweiz kommend, ist politischer Aktivist, Dokumentarist, Filme- und Theatermacher. Ein angesagter, vielfach ausgezeichneter Künstler, der uns mit seinen Arbeiten und Projekten immer wieder das Elend in der Welt, gerade auch wenn es sich in ferneren Weltgegenden ereignet (Afrika), ans Herz und ans Gewissen legt ‑ durch exakte Beschreibung, suggestive Imagination, durch effektvoll eingesetzte Mittel künstlerischer Verfremdung.
Milo Rau will verstören, aufstören, aufklären; neulich durch ein „Weltparlament“, dessen kunterbunt zusammen gerufene Abgeordnete im Saal der Berliner Schaubühne die schlimmsten Weltverhältnisse anprangerten. Immer geht es in Raus theatralisch-politischen Veranstaltungen um grauenvolle, oft durch (auch offizielles) Schweigen und Wegschauen begünstigte Verbrechen. Mit Themen wie Völkermord, Rassismus, Terrorismus, Missbrauch, Bürgerkrieg wird dem Publikum einiges zugemutet. ‑ Rau arbeitet multimedial; mischt Dokumentar-Material, Rekonstruktionen und Fiktives mit philosophisch-moralischem Diskurs, stellt Opfer und Täter einander gegenüber und staatliches Verhalten (Politik, Justiz) infrage.
Seine neueste Arbeit an der Schaubühne ist ein Mix aus Schauspiel und Film auf Grundlage einer aus Archiven und Bibliotheken gesampelten Textcollage zum Thema Große Sozialistische Oktoberrevolution in Russland; Titel: „Lenin“. Wir erleben nachgestellt die letzten Tage des 53jährigen Wladimir Iljitsch Uljanow, der auf seiner Datscha im Kreise seiner getreuen wie inzwischen verfeindeten Genossen (Ehefrau, Hausarzt, Leibwächter, Trotzki, Lunatscharski, Stalin), gemartert von schweren Schlaganfällen, seinem Tod entgegen siecht. Der tritt am 21. Januar 1924 um 4.23 Uhr ein.
Zu diesem Zeitpunkt ist das einst auf globale Nachhaltigkeit angelegte antikapitalistische Projekt der Befreiung aller Erniedrigten und Beleidigten schon längst gestorben – an Lüge und Betrug, am Terror und Massenmord der Bolschewiki, deren Partei unter Lenins Fuchtel nur noch am Machterhalt interessiert ist. Lenin selbst ist als Pflegefall längst machtlos; soweit der Hintergrund.
Zurück zum Vordergrund: Lenins Sterbelager im Januar 1924 in seiner Datscha im Örtchen Gorki nahe Moskau. Eine Situation bringt die allgemein politische wie Uljanows persönliche Lage auf den Punkt: Da erzählt der offensichtlich sadistische Genosse Sicherheit begeistert von seiner Arbeit als Folterer (langsam die Gedärme des Opfers ausreißen); Lenin murmelt die Frage „Und warum?“. Die Antwort: „Um die Welt zu verändern. Den Menschen. So wie es ist, kann es nicht bleiben.“
Immer wieder kommt derart Ungeheuerliches unaufgeregt zur Sprache in diesem penibel nachgebauten Gemütlichkeits-Totenhäuschen mit Matratzengruft, Soljanka und Samowar auf der beständig dem Tod entgegen rotierenden Bühnen-Drehscheibe; daneben die Garderobe fürs historisch korrekte Verkleiden der Schauspieler (dem man beiläufig zuschauen kann) sowie der Schminktisch für die Protagonistin Ursina Lardi. Dort wird gezeigt, wie die Maskenbildnerin ihren Haarschopf bändigt und dem Schädel eine ordentliche Lenin-Glatze aufleimt. Obendrein sind Kameraleute unentwegt dabei, die Rederei des fiktiv letzten Besucherkollektivs von Lardi-Lenins funzelig beleuchteter Endstation zu filmen, was dann live und klar auf einer Leinwand hoch überm Set großformatig zu sehen ist. Wie im Kino.
Und sonst? Inhaltlich haben die 150 Theaterminuten nichts Neues mitzuteilen. Aber: Wir dürfen Mitleid empfinden mit einem sterbenden, zaghaft und viel zu spät von Skrupeln belästigten Menschen. Und haben die Frage: Was soll diese vor Rührseligkeit triefende Show? Milo Rau diesmal als Kunstgewerbler. – Oder, total andere Lesart: Das aufwändig ausgestellte Kleinbürgerlich-Spießige als bitterböse Pointe einer groß gescheiterten Emanzipationsanstrengung? Ziemlich zynisch angesichts der Gulags und Massengräber. ‑ Ich empfehle zum Thema den Griff in die Mediathek: Nach dem intelligent pointierten Lenin-(TV)Dokfilm „Drama eines Diktators“ von Hans-Dieter Schütt und Ullrich Kasten. Ein Meisterstück, das Utopisches wie Tragisches nüchtern und gerade dadurch ergreifend ausleuchtet (auf DVD bei Amazon, 14,49 Euro).