20. Jahrgang | Nummer 23 | 6. November 2017

Ein Anti-Antikommunist

von Frank Burkhard

Die Engländer wollen etwas zum Lesen,
die Franzosen etwas zum Schmecken,
die Deutschen etwas zum Nachdenken.
Peter Panter

Wie unterscheiden sich die europäischen Völker voneinander und wo stimmen sie überein? Nicht nur in der Freizeitgestaltung ticken sie oft genug anders! Die diesjährige Berliner Jahrestagung der Kurt Tucholsky-Gesellschaft (KTG) führte Wissenschaftler und Tucholsky-Verehrer (mit deutlichen Überschneidungen beider Gruppen) unter dem Motto „Tucholsky, Die Weltbühne und Europa“ in der Humboldt-Universität zusammen. Der Vorsitzende der KTG und Tagungsleiter Dr. Ian King, ein Schotte aus London, sparte nicht mit Anspielungen auf den Brexit. Er ging auf Tucholskys Kämpfe ein, um Nationalismus und vor allem Nationalsozialismus durch Zusammenschluss aller linken Kräfte zu verhindern und zitierte den Satiriker mit „Ich bin Anti-Antikommunist. Aber ich bin kein Kommunist.“
Bei den Referenten Wolfgang Beutin und Thomas Schneider ging es um Europakonzepte der 20er Jahre. Schneider hatte sich auf den weitgehend vergessenen Autor Emil Ludwig spezialisiert, der einst zu den international führenden deutschen Literaten zählte. „Da ist dann noch Thomas Mann, der Romancier der Bourgeoisie, aber ohne Einfluß. Ich ziehe seinen Bruder Heinrich Mann vor, der ein viel moderneres und lebendigeres Talent ist. […] Er hat für die Republik geschrieben, als es noch gefährlich war“, zitierte die Weltbühne Ludwig in Nr. 26/1927 aus einem Interview mit einer französischen Zeitung. Er war damals ein Anhänger der von Tucholsky mit Skepsis gesehenen Paneuropa-Union des Nikolaus Coudenhove-Kalergi. Emil Ludwig, ein linksliberal denkender, aber durchaus großbürgerlicher Jude, gewann in den Emigrationsjahren noch einmal großen Einfluss. In Maria Schraders vorzüglicher filmischer Stefan-Zweig-Biografie „Vor der Morgenröte“ (2016) kann man ihn als Redner auf dem PEN-Kongress 1936 in einer großen Szene sehen, und er war später in den USA ein wichtiger Ratgeber von Präsident Roosevelt in europäischen Fragen.
Wie er, so spielten auch andere Weltbühne-Zeitgenossen Tucholskys eine wichtige Rolle in den Vorträgen und Diskussionen der Gegenwart. Der Stuttgarter Student Sebastian Rojek erinnerte an den Marine-Kritiker Lothar Persius, der seine aus der Praxis als kaiserlicher Marineoffizier erworbenen pazifistischen Ansichten oft in der Weltbühne verbreitete und letztlich ein Vordenker des Weltbühnen-Prozesses von 1931 war.
Eine andere junge Wissenschaftlerin, Dr. Julia Meyer aus Dresden, ging auf die damals so apostrophierte „Tochter Tucholskys“, Mascha Kaléko, ein. Die Weltbühnen-Autorin war seit Ende der zwanziger Jahre eine erfolgreiche Satirikerin und konnte – weil ihre jüdische Abstammung noch nicht bekannt war – bis Mitte der dreißiger Jahre bei Rowohlt noch Lyrik veröffentlichen. In der Emigration in den USA arbeitete sie unter anderem für den Aufbau. An Tucholsky lehnte sie sich deutlich an, als sie die Satire „Herr Wendriner in Manhattan“ schrieb, in der sie den großbürgerlichen Geschäftemacher nicht mehr jiddeln ließ, wie bei Tucholsky, sondern Amerikanismen einstreute – eine „erbarmungslose Nacktaufnahme der deutsch-jüdischen Bourgeoisie“, wie Gershom Scholem schrieb. Folgerichtig fand sich damals auch niemand, der den Text gedruckt hätte.
Ein früherer Tucholsky-Preisträger war zum Abschluss des Tucholsky-Wochenendes eingeladen, aber nicht erschienen. Deniz Yücel hätte dafür bei Recep Tayyip Erdoğan Urlaub einreichen müssen, aber ob der Tucholsky kennt? Aktivisten von #Free Deniz berichteten von den derzeitigen Lebensumständen des mutigen Journalisten in türkischer Haft. Sein Stuhl im Parkett des Theaters im Palais blieb bei der Preisverleihung demonstrativ frei.
Der diesjährige Tucholsky-Preisträger gehört auch zu den Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit Ärger einhandeln. Der 46-jährige Sönke Iwersen arbeitet für das Investigativ-Ressort des Handelsblatts und hat teilweise spektakuläre Affären wie die um die Budapester Lustreisen einer Versicherungsgesellschaft aufgedeckt. Der Preis wurde ihm jedoch zuerkannt, weil er in seiner Reportage „Schutzengengel ganz unten“ auf die Spur von Flüchtlingen in einem Armenviertel Hongkongs kam, die ganz selbstlos einen anderen Flüchtling zwei Wochen lang versteckten, von dem sie nicht wussten, dass er prominent war. In diesen 14 Tagen war Edward Snowden 2013 der meistgesuchte Mann der Welt. Iwersen machte nicht nur auf diese Menschen aus Sri Lanka und von den Philippinen aufmerksam, sondern versuchte auch per Crowdfunding Geld zu sammeln, um ihr Los zu erleichtern. Bis heute haben sie den unsicheren Flüchtlingsstatus, wie auch Edward Snowden nicht selbstbestimmt leben kann. Kurt Tucholsky selbst war schließlich auch am Lebensende ein Flüchtling, der sich in Europa verstecken musste, und er hat nicht einmal seinen 46. Geburtstag erlebt.