20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Staatsräson und Bürgerbildung

von Heino Bosselmann

Einem Land, das dezidiert, keine Nation mehr sein will, sondern irgendwas anderes, ein „Standort“ etwa, eine „Deutschland AG“ oder eine Art „Wertegemeinschaft“ vielleicht, einem solchen Land fehlt es nun mal an Souveränität, die etwa unsere niederländischen Nachbarn noch entwickeln – beispielsweise in Auseinandersetzung mit dem türkischen prä- oder profaschistischen Regime, das allen anderen Faschismus vorwirft.
Die Berliner Republik dagegen scheint immer noch als Toleranz zu verstehen, was längst Appeasement ist oder einfach nur Feigheit, mindestens jedoch einem fragwürdigen Pragmatismus gehorcht, der Courage ebenso vermissen lässt wie den Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit – in der Illusion, man fahre so mit einem schwierigen Partner noch eine Weile ganz gut und käme um dessen Erpressungsversuche herum, während dieser Feind nur darauf lauert, endlich mal richtig auszuholen, nicht zuletzt, um sich für die schmerzlich empfundenen früheren Zurücksetzungen rächen zu können. Man versteht das irgendwie, man nimmt das als Kompensationsübungen hin, also hält man weitgehend still und bleibt vielleicht nicht freundlich, immer aber „diplomatisch“.
Dieser Verlust an Haltung im Äußeren findet in Inneren seine Fortsetzung: Die Berliner Republik, die aus geschichtsneurotischen Gründen alles andere sein möchte als ein Vaterland, vernachlässigt ferner das, was für die Demokratie grundlegend wichtig wäre, die Muttersprache nämlich – als nach wie vor einziges Medium des Diskurses und der Urteilskraft. Stattdessen machen sich die Regierenden einer fortschreitenden „Legasthenisierung“ (Walter Oldenbürger) schuldig, insofern die Schulen die Inhalte ihrer Sprachausbildung ebenso ausdünnen wie sie die Bewertungen inflationieren – größtenteils unter Beifall der Elternschaft, die, solange nur die Zensuren stimmen, allen Verheißungen folgt, als wären die real, und die zugunsten der pauschalen Komplimente, die ihren Kindern leistungsunabhängig gemacht werden, darauf verzichten, sich deren Fähigkeiten kritisch anzusehen. Alles folgt der Einrederei, dass der Erfolg schon da wäre, wenn man ihn nur laut genug suggeriert hätte. Die Zeugnisse sind zwar immer weniger wert, dafür aber weisen sie umso bessere Prädikate aus. Das funktioniert, etwa so, wie die Aufblähung der Geldmenge zunächst gegen die Bankenkrise zu helfen schien.
„Mehr Abi, mehr Job!“ – Das hört sich gut an, obwohl es schon in Worten zeigt, dass damit nicht mehr Reifeprüfung und Beruf gemeint sind, sondern einfach irgendwas Gutes, das keine Anstrengung verlangt und das man mit dem Zeugnis per Mausklick ausgedruckt bekommt, wenn man einigermaßen mitgelaufen ist und die Inszenierungen durchgehalten hat. Letztlich wird man „zertifiziert“, so wie jahrelang Abgaswerte und Spritverbrauch ebenfalls ganz eindrucksvoll zertifiziert wurden, womit zunächst jeder zufrieden war, von Wirtschaft bis Verbraucher. Mit Blick auf den alles heiligenden Erfolg. Es mag polemisch klingen, aber tatsächlich sind beide Täuschungen wesensverwandt, die skandalös verlogenen Abgastests wie das deutsche Abi. Das wird auffallen, sobald jemand argwöhnisch hinzusehen bereit ist. Bislang jedoch sehen alle nur des Kaisers neue Kleider. Denn eines muss um jeden Preis verhindert werden – das Scheitern. Genau das aber galt einst als wichtige biografische Erfahrung, die man auszuhalten hatte. Das Scheitern allerdings verwarf niemanden, sondern signalisierte ihm lediglich, umsteuern zu müssen.
Wer in der Schule nichts will und wer nichts kann, für den besteht gegenwärtig „erhöhter Präventionsbedarf“. Der mündet dann in eine Art Diagnose: Das Kind wird im Jargon der Pädagogik zum „L-Kind“. Es bedarf eines gesonderten Förderplans mit „Förderschwerpunkt Lernen“, der zunächst nicht mehr ist als beschriebenes Papier, aber trostreich zu verheißen scheint, nun werde endlich alles besser.
Ähnlich verhält es sich mit verhaltensauffälligen Kindern. Diese bekommen „ESE“ bescheinigt, also Probleme in der „emotionalen und sozialen Entwicklung“. Auch ihnen gegenüber läuft ein Programm der „Nachteilsausgleiche“ an. Da mittlerweile die „Inklusion“ vorrangiges Ziel der Bildung ist, werden Kinder mit kognitiven, sprachlichen und Verhaltensdefiziten möglichst nicht mehr in Sonderschulen unterrichtet, weil man darin im Einklang mit einer hochgehaltene UN-Konvention eine unzumutbare und die Würde verletzende „Negativselektion“ sieht. Sie werden an den Regelschulen betreut, und zwar durch eine angeblich ausgefeilte Binnendifferenzierung und mit der Hilfe von Sonderschulpädagogen, die ihre Sonderschulen aufzugeben haben und als „Coaches“ in den Klassen sitzen, in denen jetzt alle versammelt sind. Das soll funktionieren. Nein, es muss funktionieren. Man hat so moderne Vorstellungen davon, gestützt von einem revidierten Menschenbild, nach dem nun wirklich keiner mehr zurückgelassen wird, dass es gar nicht anders als erfolgreich laufen darf! Denn das stünde den selbst gefassten Werten entgegen! – Dass das ewige Testen und Diagnostizieren schon etwas mit Pathologisieren zu tun hat und solcherart ein zweifelhaftes Wortfeld entsteht, registriert man im Eifer der Testereien gar nicht.
Selbstverständlich gibt es dazu eine ganze Fülle von Veranstaltungen und „Team-Sitzungen“ sowie ganz neue Institute zur „Qualitätssicherung“, die mit immer neuen Testreihen „evaluieren“, wie erfolgreich das alles schon ist. Nur eines gibt es gerade nicht: den kritischen Dialog im System der Bildung selbst. Ein Diskurs zur Falsifizierung all der fragwürdigen pädagogischen Verfahren darf gar nicht geführt werden, da doch alles so stimmig gedacht und vor allem von den endgültig mal durchgesetzten Werten der Menschlichkeit fundiert ist. Reine Ideologie! Vielleicht gibt es dann am Ende alles in „einfacher Sprache“, das Abitur, den Deutschlandfunk, Politikerreden. Nur dass das Leben und die Welt nicht so einfach sind, und der Mensch schon gar nicht.
Die Folge: Man stellt den Schülern ungedeckte Schecks aus, und dies bereits in der zweiten Generation. Darüber beklagen sich Handwerksmeister wie Professoren. Sie müssen mit den bestens zertifizierten Absolventen arbeiten. In der Praxis. O weh! Und immer mehr Eleven brechen ihnen ein und ab, obwohl auch in der Berufsausbildung und an der Universität die Anforderungen vermeintlich gerechterweise sanken. Und immer noch weiter sinken. Also müssen gleich wieder neue „Förderungsmodule“ her.
Und die Inkludierten? Werden im Stich gelassen, weil „Binnendifferenzierung“ so gut klingt, wie sie schwer zu bewerkstelligen ist, während die Talentierten im Milieu einer sich als Förderung verstehenden Unterforderung ihre Talente eben kaum ausbilden, sondern sie versanden lassen.
Kann es gar sein, dass Fähigkeiten und Fertigkeiten gerade deswegen geringer werden, weil eben kaum mehr etwas mit Mühe und Leistungsbereitschaft, mit Selbstüberwindung und Mumm errungen werden muss, sondern jeder per se als einmaliges Talent gilt, das bitte dort abzuholen ist, wo es steht? Sollte es nicht besser selbst mal loslaufen, sich ein Ziel setzen und einen Sinn geben.