20. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2017

NATO-Russland – militärische Zwischenfälle verhindern

von Jerry Sommer

2013, also vor der Ukraine-Krise, sind NATO-Kampfflugzeuge insgesamt 40 Mal aufgestiegen, weil russische Militärmaschinen im Baltikum nahe der Grenzen von NATO-Staaten geflogen sind. Danach hat sich diese Zahl vervielfacht, sagt Lukasz Kulesa vom „European Leadership Network“, einem Thinktank, der sich mit Gefahren für die europäische Sicherheit beschäftigt: „2014 gab es schon 140 solcher Zwischenfälle, 2015 waren es 116. Nach Angaben der NATO ist diese Zahl 2016 leicht auf 110 zurückgegangen“.
Aber aufgrund der Truppenverlegungen sowie vermehrter Militärübungen der NATO wie auch Russlands in Grenzregionen von NATO-Mitgliedern ist das Risiko von Zwischenfällen weiterhin hoch, sagt Leon Ratz von der Washingtoner „Nuclear Threat Initiative“, die sich seit vielen Jahren für eine Reduzierung vor allem von nuklearen Gefahren einsetzt: „Das Risiko von Unfällen und Fehleinschätzungen wächst. Und damit sind unakzeptabel hohe Eskalationsgefahren verbunden. Wir haben es ja mit Nuklearmächten zu tun. Deshalb sind damit auch nukleare Gefahren gegeben.“
Die NATO hat wiederholt kritisiert, dass russische Militärflugzeuge über der Ostsee mit ausgeschalteten Transpondern fliegen. Denn so können zivile Flugzeuge und die zivile Luftraumüberwachung diese Flugzeuge auf ihren technischen Geräten nicht wahrnehmen. Im Notfall ist daher ein Ausweichen erst möglich, wenn die Militärmaschinen in Sichtweite sind. Russland hat lange Zeit abgestritten, dass dadurch die Sicherheit im Luftverkehr gefährdet würde. Im vergangenen Sommer hat Moskau jedoch einem Vorschlag des finnischen Präsidenten Niinistö zugestimmt, dass im Baltikum alle Militärflüge nur mit eingeschalteten Transpondern stattfinden sollten. Der russische Botschafter bei der NATO in Brüssel Alexander Gruschko erklärt: „Wir haben der NATO wie auch den einzelnen NATO-Staaten vorgeschlagen, technische Gespräche zwischen Militärs unserer Länder zu beginnen, mit dem Ziel, alle Fragen zu behandeln, die mit der militärischen Sicherheit und Stabilität zu tun haben und besonders mit der Vermeidung von gefährlichen militärischen Zwischenfällen.“
Deutschland hat sich innerhalb der NATO dafür ausgesprochen, den russischen Vorschlag aufzugreifen.
Zwar wurde im NATO-Russland-Rat, der im vergangenen Jahr insgesamt dreimal zusammengekommen ist, über das Thema Risikovermeidung gesprochen. Allerdings haben sich beide Seiten bisher nicht auf konkrete Maßnahmen geeinigt. Insbesondere bei der Transponderfrage hat es bisher kein klares „Ja“ der NATO-Staaten gegeben. Immerhin haben NATO und Russland weiteren Gesprächen hierüber zugestimmt, zu denen der finnische Präsident alle interessierten Staaten in diesem Jahr einladen will.
Ein Problem dürfte sein, dass Militärs beider Seiten es für nützlich halten, die Transponder manchmal ausgeschaltet zu lassen. Lukasz Kulesa bemerkt: „Flüge ohne eingeschaltete Transponder werden manchmal benutzt, um Informationen über die Radarsysteme der anderen Seite zu sammeln. Die Russen machen das und einige NATO-Staaten machen das ebenfalls. Es gibt eine gewisse Zurückhaltung der Militärs beider Seiten, denke ich, das in einem Abkommen strikt zu verbieten.“
Die zögerliche Antwort der NATO auf den russischen Transponder-Vorschlag hat jedoch vor allem einen politischen Hintergrund: Denn die NATO ist in der Frage gespalten, inwieweit man durch Gespräche oder gar Abkommen zwischen Russland und der NATO den Eindruck erweckt, man kehre trotz des russischen Vorgehens in der Ukraine wieder zum Normalzustand zurück. Deutschland ist dafür, alle Möglichkeiten zur Risikominimierung und für Rüstungskontrolle in Europa zu nutzen. Einige osteuropäische NATO-Mitglieder aber sind strikt dagegen und lehnen es ab, wieder Gespräche zwischen NATO- und russischen Militärs zu führen. Die NATO hatte als Reaktion auf die Ukraine-Krise die militärische Zusammenarbeit mit Russland auf Arbeitsebene komplett eingestellt. Eine falsche Entscheidung, findet der Rüstungsexperte Hans-Joachim Schmidt von der „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“: „Meine persönliche Auffassung ist, dass es ohnehin ein Fehler war, auf der Arbeitsebene den NATO-Russlandrat einzustellen. Insofern befürworte ich eine schnellstmögliche Reaktivierung des NATO-Russlandrates auch auf Arbeitsebene.“
Denn nur durch Gespräche zwischen Militärexperten aus der NATO und Russland können konkrete Vereinbarungen über Flugsicherheit und Risikovermeidung vorbereitet werden.
Erstrebenswert wäre sicherlich eine umfassende Vereinbarung zwischen der NATO und Russland über diese Thematik. Trotz des Widerstandes einiger osteuropäischer Staaten gibt es dafür nach dem Amtsantritt von US-Präsident Donald Trump offenbar bessere Voraussetzungen als bisher. Der russische NATO-Botschafter Gruschko ist jedenfalls optimistisch: „All unsere Vorschläge, die wir sowohl der NATO als auch den einzelnen NATO-Staaten gemacht haben, liegen nach wie vor auf dem Verhandlungstisch. Wir glauben, dass die NATO eher früher als später darauf konstruktiv antworten wird.“
Der Rüstungsexperte Hans-Joachim Schmidt ist allerdings skeptisch: „Das ist gegenwärtig vor dem Hintergrund der Differenzen zwischen den NATO-Staaten nicht machbar. Insofern ist es sinnvoller, es auf bilateraler Ebene zu versuchen, zumal es zwischen NATO-Staaten und Russland schon 12 Abkommen zur Verminderung der Risiken von militärischen Zwischenfällen auf Hoher See gibt.“
Diese Abkommen basieren auf einer Vereinbarung zwischen den USA und der Sowjetunion aus dem Jahre 1972. Auch Deutschland hat ein entsprechendes Abkommen mit Russland. Allerdings gibt es solche Abkommen bisher weder mit Polen und den baltischen Staaten noch mit Rumänien und Bulgarien. Dabei ist es auch in der Schwarzmeer-Region zu Zwischenfällen gekommen.
Das Hauptproblem der bestehenden Abkommen über die Vermeidung von Zwischenfällen auf und über den Meeren ist jedoch, dass sie sehr allgemein und wenig konkret sind. Während die USA Tiefflüge russischer Kampfflugzeuge über US-Kampfschiffe als „provokativ“ und „gefährlich“ bezeichnet haben, sind diese aus russischer Sicht „professionell“ und „legal“. Welche Entfernungen und Abstände als „sicher“ angesehen werden, müsse deshalb von den USA beziehungsweise der NATO und Russland gemeinsam festgelegt werden, schlägt die „Nuclear Threat Initiative“ in einem Bericht vor.
Diese Vorschläge unterstützen in einer gemeinsamen Erklärung der ehemalige britische Verteidigungsminister Des Browne, der frühere US-Senator Sam Nunn, der ehemalige russische Außenminister Igor Ivanow und der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger. Russland habe den USA schon ein entsprechendes Angebot unterbreitet, sagt der russische Botschafter Gruschko: „Wir haben den USA vorgeschlagen, Ergänzungen zu dem bestehenden bilateralen Abkommen zu verhandeln und dabei zu definieren, welches die maximalen bzw. minimalen Entfernungen sein sollen, auf die sich Schiffe und Flugzeuge beider Seiten einander annähern dürfen. Noch warten wir auf eine Antwort.“
Ob – und gegebenenfalls wann – die neue Administration in Washington antworten wird, ist offen. Anscheinend gibt es jedoch neue Möglichkeiten, aus einer wachsenden gegenseitigen Konfrontation mit ihren Eskalationsgefahren auszubrechen – sowohl auf der bilateralen Ebene zwischen den USA und Russland sowie multilateral im NATO-Russland-Rat oder in der OSZE, der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“. Hans-Joachim Schmidt von der „Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ ist jedenfalls hofft auf Annäherungen: „Wenn beide Seiten versuchen, ein Stück aufeinander zuzugehen, um die Beziehungen zu verbessern, sind die Chancen, die bestehenden Abkommen zur Risikominimierung zu verbessern, natürlich besser.“
Die kommenden Monate werden zeigen, ob diese Chancen auch genutzt werden oder ob es Hardlinern gelingt, eine Renaissance von Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung zu verhindern.

Leicht veränderte Version eines Beitrages für „Streitkräfte und Strategien“ (NDR-Info, 28.1.2017).