20. Jahrgang | Nummer 4 | 13. Februar 2017

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

„ […] wir müssen den Dialog aus einer
Position der Stärke führen.
Russland […] wird uns nur respektieren,
wenn wir stark sind […],
wenn wir militärisch Muskeln zeigen.“
Ben Hogdes,
Oberkommandierender
der US-Streitkräfte in Europa

„Eine eigene Atommacht
müsste mit Russland mithalten können.
Europa würde dann zur Supermacht.
Das würde ich begrüßen.“
Jaroslaw Kaczynski,
Polens faktischer Alleinherrscher

Die Krise – da bildet die Zeit seit dem offenen Ausbruch der Spannungen zwischen dem Westen und Russland im Gefolge der Ereignisse in der Ukraine im Jahre 2014 keine Ausnahme – ist die Stunde der Strategen. Hierzulande wie in anderen NATO-Staaten insbesondere solcher, die unverdrossen feindbildgeprägte Konzepte recyceln, die sich unter Begriffe wie Abschreckung und Politik der Stärke subsummieren lassen. Der Rückgriff erfolgt dabei in der Regel unter Ausblendung von Ereignissen, Entwicklungen und Analogien des Kalten Krieges, anhand derer auch dem weniger informierten Publikum deutlich werden könnte, wie ahistorisch und sicherheitspolitisch kontraproduktiv eine Orientierung auf derartige Konzepte ist. Die Kuba-Krise, um nur das Beispiel aus der Zeit zwischen 1945 und 1989 zu nennen, wurde durch Abschreckung weder verhindert, noch durch Politik der Stärke gelöst. Letzteres erfolgte durch Kompromiss und wechselseitigen Interessenausgleich.
Auch die Beendigung des Kalten Krieges in der Zeit zwischen 1985 und 1990 erfolgte auf einer solchen Grundlage, wobei Entspannung und Partnerschaft im Verhältnis des Westens zu Russland die entscheidende Komponente war, um erfolgreich Schritte in Richtung einer nichtkonfrontativen Sicherheitsarchitektur in und für Europa unternehmen zu können. Die Charta von Paris aus dem Jahre 1990 hätte die kodifizierte Grundlage dafür werden können, diesen Prozess fortzuführen. Aber dann zerfiel die Sowjetunion, und in Russland herrschten zehn Jahre frühkapitalistische Anarchie nebst weitgehender außenpolitischer Handlungsunfähigkeit, und der Westen seinerseits ging dazu über, seine eigene Einflusssphäre systematisch in Richtung der russischen Westgrenze vorzuschieben, und mochte davon auch nicht mehr ablassen, als mit Putin wieder ein ernst zu nehmender Kopf in Moskau an der Spitze erschien und die Hand demonstrativ nach Westen ausstreckte. Etwa in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag am 29. September 2001 oder in durch seine Initiative für einen „Europäischen Sicherheitsvertrag“ für den Raum zwischen Vancouver und Wladiwostok vom 5. Juni 2008, für den auch ein entsprechender Entwurf unterbreitet worden ist. Insofern könnte sich das Diktum des russischen Präsidenten vom Zerfall der Sowjetunion als größter geopolitischer Katastrophe des XX. Jahrhunderts auf längere Sicht als nicht so unzutreffend erweisen, wie die reflexartige Ablehnung einer solchen Sicht der Dinge im Westen üblicherweise suggerieren will.
Es gehört offenbar zu der Geschichte eigenen Ironie, historische Lektionen mit dem Abtreten maßgeblicher Beteiligter binnen einer Generation weitgehend in Vergessenheit geraten zu lassen. Was derzeit in den politischen Feuilletons der inländischen Leitmedien an strategischen Überlegungen, Rezepten und Konzeptionen ventiliert wird, liefert leider für die Berechtigung dieser Befürchtung überreichlich Beispiele. Unhinterfragte Wiedergaben solcher Äußerungen wie der eingangs zitierten des Oberbefehlshabers der US-Truppen in Europa sowie von Jaroslaw Kaczynski inklusive. (Was Atomwaffen und europäische Sicherheit anbetrifft soll hier nur auf den Blättchen-Beitrag des Autors in Nr. 2/2017 verwiesen werden.)
Beispiel eins: Vor einigen Wochen ließ die FAZ in ihrer Rubrik „Fremde Federn“ Klaus Segbers zu Wort kommen. Seines Zeichens immerhin Professor für Internationale Politik am nicht unrenommierten Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Segbers weiß es ganz genau: „Russland wird überschätzt. Vor diesem Hintergrund ist die Redseligkeit vieler westlicher Politiker gegenüber Moskau erstaunlich. Was gibt es denn zu bereden? Wir haben keinen Kalten Krieg mehr, es bedarf keiner Entspannungspolitik mehr.“
Die beiden Weltkriege, die ihren Ausgang in Europa nahmen, bedurften zu ihrer Entstehung allerdings keines Kalten Krieges zwischen antagonistischen Systemen. Es genügten völlig die Spannungen zwischen kapitalistischen Staaten, und zumindest eine solche Situation haben wir in Europa heute wieder.
Die Entspannung ihrerseits hat entscheidend dazu beigetragen, dass der Kalte Krieg nicht zum heißen wurde. Angesichts des seit 2014 vor sich gehenden Aufschaukelns der militärischen Konfrontation zwischen der NATO und Russland vor allem in grenznahen Bereichen, disqualifiziert sich der Kurzschluss Segberts, es bedürfe keiner Entspannungspolitik mehr, also selbst.
Es ist im Übrigen nicht sein einziger: „Wir können […] unsere Aufmerksamkeit minimieren, die westliche Debatte abkühlen und den Russland-Fokus zurücknehmen. Es gibt viele wichtigere Fragen und Herausforderungen als Russland. Ein penetranter Russland-Diskurs bindet unnötig Energien, die wir, zum Beispiel, für die Lösung dringender Fragen in Europa benötigen.“ Ganz abgesehen davon, dass auch diesem Professor die im Westen übliche Arroganz eigen ist, das größte europäische Land schon mittels eines exklusiven Europa-Begriffes aus dem Bestand des Kontinents zu exkommunizieren, bleibt doch ein Tatbestand unleugbar: Russland ist nukleare Supermacht. Das heißt, dass im Falle eines raumgreifenden militärischen Konfliktes mit dieser und schon gar bei Eskalation auf die nukleare Ebene anschließend mit einiger Wahrscheinlichkeit überhaupt keine der dringenden Fragen, die Segbert meinen könnte, noch von nennenswerter Relevanz wäre.
Zur Ehrenrettung des Autors soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass er zumindest zu einem von außen geförderten Regimewechsel in Moskau, von dem mancher im Westen immer noch träumt, nachdem es zuletzt in der Ukraine – wenn auch, gemessen am Ergebnis, mehr schlecht als recht – geklappt hatte, ein klares Votum formuliert: „Der ist weder legitim noch machbar.“
Exkurs: Inzwischen schreitet die militärische Kräfteverstärkung der USA und der NATO im Baltikum, in Polen und in anderen osteuropäischen Staaten weiter voran. In ihrer „Operation Atlantic Resolve“ hat die US-Armee gerade rund 3500 Mann und 2000 Militärfahrzeuge, darunter knapp 90 Kampfpanzer, 18 Panzerhaubitzen und fast 150 Späh- und Schützenpanzer nach Polen verlegt. Einzelne Bataillone dieses Kontingents sind für Rumänien, Bulgarien und das Baltikum vorgesehen. Noch im Februar werden im Rahmen der genannten Operation 2200 weitere US-Soldaten mit insgesamt über 80 Kampf- und Transporthubschraubern hinzukommen, die ebenfalls nach Osteuropa und zum Teil nach Deutschland verlegt werden. Parallel dazu nimmt die Bildung von vier multinationalen Bataillonen der NATO à 1000 Mann für die baltischen Republiken und Polen Gestalt an; eines davon wird die Bundeswehr führen.
Beispiel zwei: Den Sinn der eben skizzierten Maßnahmen, offiziell als „Enhanced Forward Presence“ bezeichnet, erläuterte Konrad Schuller, FAZ-Korrespondent für Polen und die Ukraine, kürzlich folgendermaßen: „Zu den Grundannahmen dieses Einsatzes gehörte zunächst die Überzeugung fast aller westlichen Experten, dass etwas geschehen müsse, weil das unberechenbar gewordene Russland hier im Nordosten enorme Überlegenheit besitzt. Die baltischen Staaten sind klein.“ Moskau habe „bei grenznahen Manövern zuletzt bis zu 80.000 Mann mobilisiert“. Und: „Simulationen der amerikanischen Rand-Corporation haben ergeben, dass Moskau, […] gerade drei Tage brauchen würde, um die Hauptstädte Tallinn, Riga und Vilnius einzunehmen.“ Das könnten natürlich auch die wenigen jetzt vorverlegten NATO-Mannen nicht verhindern. Aber was die betrifft, da ist ein ausgeklügeltes Konstrukt im Spiel. Zu dessen Erläuterung bemühte Schuller einen Vertreter des Londoner „International Institute for Strategic Studies“, der seinerseits auf das alte West-Berlin verweist: „Damals sind die westlichen Alliierten der sowjetischen Übermacht in Ostdeutschland durch relativ kleine amerikanische, britische und französische Kontingente in der bedrohten Stadt entgegengetreten. Nicht ihre Kampfkraft war entscheidend, sondern das Signal: Wer angreift, bekommt es mit der gesamten Nato zu tun. Hinter dem heutigen Nato-Einsatz in Polen und im Baltikum steckt ein ähnliches Kalkül.“
Allerdings weiß auch Schuller: „Ein Signaldraht hat nur Sinn, wenn jemand auf das Signal reagiert – und zwar die Nato mit einer entschlossenen Antwort im Sinne ihres ‚Artikels 5‘, der Pflicht zum Beistand.“ Hier hätte er – der historischen Redlichkeit wegen – nicht unerwähnt lassen sollen, dass genau Letzteres sich nach dem 13. August 1961 als Schimäre erwies: Die DDR riegelte nicht nur West-Berlin ab, sondern reglementierte auch die alliierten Zugangsrechte dorthin rigoros, mit Rückendeckung Moskaus. Weder Washington noch gar die westeuropäischen NATO-Staaten riskierten deswegen einen Atomkrieg. Wären die baltischen Republiken sicherheitspolitisch also nicht besser beraten, wenn sie nicht darauf vertrauten, dass eine vergleichbare Entscheidung heute anders ausfiele?
Währenddessen, so Schuller, halte die NATO für den Beistandsfall „die nötigen Soldaten“ bereits „bereit: Die ‚Nato-Speerspitze‘ (VJTF) könnte in wenigen Tagen 5000 Mann einfliegen, die ‚Nato Response Force‘ 30.000 Mann binnen eines Monats. Weitere 40.000 könnten innerhalb eines Vierteljahres folgen.“
Doch an dieser Stelle stutzt wahrscheinlich selbst der militärische Laie: Wenn die RAND-Prognose zuträfe, wo, bitteschön, sollte dann auch nur die VJTF sinnvollerweise ansetzen? Vom Rest ganz zu schweigen.
Hier soll allerdings nicht militärischen Sandkastenspielen das Wort geredet, sondern vielmehr deutlich gemacht werden: Auf diesem Wege werden die sicherheitspolitischen Probleme auch des Baltikums im Verhältnis zu Russland nicht zu lösen sein. Wie im Falle des alten West-Berlins werden diese Probleme durch Abschreckungsattitüden und Politik der Stärke vielmehr nur verschärft und verlängert.
Beispiel drei: Besonders harte Salon- und Schreibtischstrategen, schon was das Verhältnis zur Sowjetunion anbetraf, hatte von jeher das Haus Springer zu bieten – spätestens seit Gründer Axel Cäsar 1958 in Moskau mit dem Versuch gescheitert war, dem damaligen KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow die DDR abzuhandeln. Diese Tradition hält sich bis heute, derzeit personifiziert unter anderem durch Richard Herzinger, der sich vor der Wahl des neuen Bundespräsidenten im Blatt Die Welt diese Gedanken über den Kandidaten Frank-Walter Steinmeier machte: „So weit es darum geht, Erreichtes zu verteidigen und auf der Basis breitest möglicher Konsensfindung behutsam auszubauen, ist Steinmeier eine Idealbesetzung. Wo es jedoch darum geht, antagonistische Konflikte auszutragen, die nur erfolgreich durchzustehen sind, wenn man selbst in den Angriff geht und den Gegner in die Defensive zwingt (Hervorhebung – W.S.), ist er überfordert.“
Man hört förmlich die Kommissstiefel im Gleichschritt aufs Straßenpflaster knallen.
Solche Denkungsart ist uralt und firmiert seit irgendwann in der späten Neuzeit unter dem Rubrum „Nullsummenspiel“: Dein Verlust ist mein Gewinn; und umgekehrt.
Die Möglichkeit, dass es Verlierer auf beiden Seiten geben könnte, ist in diesem schlichten Koordinatensystem nicht vorgesehen. Zwischen atomar bewaffneten Gegnern, da war man sich zumindest gegen Ende des Kalten Krieges ziemlich einig, ist das aber die wahrscheinlichste Variante im Falle eines militärischen Großkonflikts.
Diese Denkungsart ist für das Zustandekommen zahlloser Kriegsgeschehen in der Menschheitsgeschichte wenn schon nicht konstituierend, so doch mitentscheidend gewesen sein, und hat über die beiden Weltkriege hinaus auch den Kalten Krieg und das bisherige militärische Nuklearzeitalter zwar gottseidank nicht dominiert, aber in erheblichem Maße geprägt.
Wenn allerdings maßgebliche Akteure in Ost und West das Koordinatensystem dieser Denkungsart nicht schon zu Beginn der 1970er Jahren wenigstens partiell verlassen hätten, wie wäre dann ein Helsinki-Prozess zu beginnen und zu einem nachwirkenden Ergebnis zu bringen gewesen? Und hätten Entscheider im Westen wie Helmut Kohl, der Gorbatschow noch 1986 mit Goebbels verglich, nicht über den Tellerrand dieser feindbildgeprägten Denkungsart hinauszublicken vermocht, wir säßen womöglich heute noch in den Schützengräben des Kalten Krieges.
Oder hätten die auf eine Weise hinter uns gelassen, die unseren Kindern und Enkeln jede Chance auf eigene Lebenserfahrungen nachhaltig verwehrt hätte.