19. Jahrgang | Nummer 7 | 28. März 2016

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Die Charta von Paris hat das Bild einer europäischen Friedensordnung entworfen. Das hätte man pflegen müssen. Doch viele im Westen haben nach dem Fall der Mauer gesagt: Wir haben uns jetzt durchgesetzt. […] Statt weiter an einer neuen, gemeinsamen Ordnung zu bauen, wurde der Schwerpunkt auf die Ausweitung der Nato und der EU gelegt. Die OSZE verfiel durch westliche Inaktivität in einen Dornröschenschlaf.

Hans-Dietrich Genscher

Dieses Ost-West-Fazit des früheren Außenministers über die 25 Jahre seit Ende des Kalten Krieges war zum Zeitpunkt seiner Formulierung, unmittelbar vor der Übernahme des OSZE-Vorsitzes durch Deutschland zum 1. Januar 2016, zwar zutreffend, aber leider nicht einmal die halbe Wahrheit. Denn: „Der Ernstfall ist wieder denkbar in Variationen vom Nerven- und Hybridkrieg bis zum klassischen Stahl auf Stahl.“
Das klingt zwar nach Ernst Jünger und fast wie erleichtert, als könne dem hedonistisch verlotterten europäischen Westen nichts Besseres passieren als eine Renaissance von Wacht und Wehr, trotzdem lieferte Michael Stürmer, ehemaliger Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), des sicherheitspolitischen Thinktanks der Bundesregierung, und heutiger Chefkorrespondent von Welt und Welt am Sonntag, mit diesem Satz in der Welt vom 12. Februar die notwendige Ergänzung zum Resümee Genschers. Der Ernstfall, ergo Krieg mit Russland, ist wieder denkbar und kann, da die NATO und Moskau sich seit dem offenen Ausbruch des Ukraine-Konflikts im Jahre 2014 permanent gegenseitig mit militärischen Nadelstichen provozieren, jederzeit Realität werden. Etwa wenn Russland auf den nächsten Abschuss eines seiner Kampfjets nicht so zurückhaltend reagierte wie auf jenen durch die Türkei am 24. November vergangenen Jahres.
In einer solchen Situation müssten militärische Zurückhaltung und das Bemühen, alle vorhandenen politischen Kanäle zur Deeskalation zu nutzen, im Vordergrund stehen. Da ginge die Umsetzung einer Überlegung, die Bundesaußenminister Steinmeier erst jüngst zum wiederholten Male ins Gespräch gebracht hat, in die richtige Richtung: Der NATO-Russland-Rat könne „eine wichtige Rolle spielen, um gemeinsam Vorschläge zur Risikovermeidung zu entwickeln und zukünftige Konfrontationen zu vermeiden“.
Diese Position ist aber im westlichen Bündnis nicht mehrheitsfähig. Dort haben sich – wie auch in Moskau – augenscheinlich die pubertären Halbstarken durchgesetzt. So hat Washington Kurs darauf genommen, mit dem Militärbudget 2017 die Mittel für seine sogenannte European Reassurance Initiative gegenüber 2016 zu vervierfachen – auf 3,4 Milliarden Dollar. Die Gelder sollen unter anderem dazu dienen, entlang der NATO-Ostgrenze militärische Infrastrukturen auszubauen und weitere Depots für Kampfpanzer, Artillerie und anderen Ausrüstungen anzulegen, um künftig rasch einen US-Großverband von 20.000 Mann nachziehen und kampfbereit armieren zu können. Überdies soll in dieser Region eine NATO-Brigade in Stärke von 4.000 Mann an wechselnden Standorten permanente Präsenz zeigen. Auch die militärische Zusammenarbeit der NATO mit der Ukraine wird 2016 weiter intensiviert.
Moskau seinerseits spielt mit, hat seit 2014 Anzahl und Umfang seiner Truppen-Manöver zu Lande sowie seiner militärischen Aktivitäten im internationalen Luftraum und in internationalen Gewässern stark erhöht und kürzlich die Aufstellung dreier neuer Divisionen nahe den NATO-Ostgrenzen verkündet.
Auf westlicher Seite müsse andererseits, das ist für Stürmer keine Frage, auch Berlin seinen Beitrag leisten: „Für Deutschland wird es nicht damit getan sein, gute Wünsche beizusteuern. Es wird Aufrüstung geben müssen, Stationierungen, Nachrüstung verschiedener Art.“
Mehr Rüstung = mehr Sicherheit lautet die äußerst schlichte Arithmetik solcher Postulate, die von Medien, Politik und Militärs derzeit geradezu stereotyp in die Öffentlichkeit getragen werden. Doch diese Arithmetik war schon während des Kalten Krieges in der Zeit bis 1990 falsch, hatte aber ein sich über Jahrzehnte aufschaukelndes Wettrüsten zur Folge, das der Welt unter anderem eine mehrfache nukleare Overkillkapazität bescherte. Zwar sind die Sprengkopfzahlen der USA und Russlands seither deutlich reduziert worden, aber noch längst nicht unter eine nicht mehr existenzgefährdende Schwelle. Unverändert gilt auch: Jeder militärische Konflikt mit Russland könnte nuklear werden und das Ende beider Seiten einleiten – je eher einem der Kontrahenten eine Niederlage drohte, desto schneller.
Diese Sachverhalte liegen jedoch außerhalb des Wahrnehmungsvermögens von Strategen wie Michael Stürmer. Der verkündet seinem Publikum lieber auch noch: „Immer […] verspricht Nuklearmacht Eskalationsdominanz.“ Nach dem Beweis für solche und ähnlich tolldreiste, um nicht zu sagen suizidale Thesen oder auch nur für das Axiom „mehr Rüstung = mehr Sicherheit“ fragt ja niemand – nicht im Spiegel, nicht in der FAZ oder in der Süddeutschen Zeitung, auch nicht in der taz und in der Welt schon gar nicht.
Dabei weiß natürlich auch Stürmer, dass die USA zum Beispiel im Indochinakrieg aufgrund ihrer waffentechnischen und militärökonomischen Möglichkeiten zwar die konventionelle Kampfführung quasi beliebig ausweiten konnten, aber weder diese Eskalationsdominanz noch barbarischste Luft- und Landkriegsführung konnten die Niederlage abwenden. Die US-Nuklearmacht ebenso wenig. Die Verläufe in jüngerer Zeit (Afghanistan, Irak) waren ähnlich. Und wer gegenüber einer gleichstarken Atommacht mit gesicherter Zweitschlagskapazität wie Russland den Begriff Eskalationsdominanz überhaupt nur ins Spiel bringt, disqualifiziert sich selbst. Womit wollte man drohen, wozu die Gegenseite nicht selbst fähig wäre?
Derweil das Axiom „mehr Rüstung = mehr Sicherheit“ sinnlos teuer zu werden droht. Ursula von der Leyen fordert nun zusätzliche 130 Milliarden Euro für die Modernisierung des deutschen Militärs, womit, laut WirtschaftsWoche, „bis zum Jahr 2030 dessen Einsatzbereitschaft wachsen“ soll. Wie bitte? Bis 2030? Und in den nächsten zehn bis 15 Jahren? Sagen wir den Russen einfach immer wieder, dass sie aber schon demnächst richtig Angst vor uns haben müssen? Etwa vor dem neuen deutsch-französischen Kampfpanzer, der vielleicht kommen wird – einsatzbereit frühestens in der zweiten Hälfte der 2020er Jahre. Ob irgendwann auch in relevanten Stückzahlen, ist allerdings völlig offen.
Kann ernst genommen werden wer solche Hebel als Antwort auf die derzeitige Krise in den Beziehungen zu Russland ansetzt? Aber gewiss doch: Die offizielle sicherheitspolitische Community hierzulande ist ja traditionell ein weitgehend geschlossener Kreis sich immer wieder gegenseitig und damit selbst bestätigender Vor- und Mitdenker, Politiker, Militärs, Journalisten, Politologen und anderer einschlägiger Experten. Da konzediert dann selbst ein gestandener Ex-Spitzen-Diplomat wie Wolfgang Ischinger, der jetzige Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, der 130-Milliarden-Forderung von der Leyens: „Das ist ein wichtiger und notwendiger Schritt.“ Und setzt noch eins drauf: „Ich finde es ermutigend, dass auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäubele mehr Geld […] ausgeben will.“
Ganz in diesem Sinne bearbeiten Medien wie Die Welt inzwischen, geprintet und online, den für sie erreichbaren Teil der Öffentlichkeit – mit kurzer Taktfrequenz, zeitweise fast schon staccato:
Am 5. Februar unter der Überschrift „Putins Plan geht auf“ mit der Warnung: „Die Selbstermächtigung zur Missachtung internationalen Rechts […] ist im Weltbild es russischen Regimes inbegriffen.“ (Wie im westlichen Weltbild? Möchte man fragen – Jugoslawien, Kosovo, Irak, Libyen und jetzt Syrien vor Augen. In letzterem Land agieren allein die Russen auf Ersuchen einer legitimen Regierung, also insofern völkerrechtskonform.)
Am 11. Februar, in einem Interview mit dem „CDU-Außenpolitiker“ Norbert Röttgen: „Angesichts der sicherheitspolitischen Herausforderungen […] müssen wir […] mehr Ressourcen für den Wehretat aktivieren.“
Und parallel in einem weiteren Beitrag: „Indem die Kriegsachse Moskau-Teheran-Damaskus neue Flüchtlingsströme produziert, fördert sie die Destabilisierung unliebsamer Nachbarstaaten […].“ (Dass russisches Militär in Syrien erst seit dem 30. September 2015 aktiv ist und dass das Millionenheer syrischer Flüchtlinge in den Jahren zuvor durch den vom Westen angeheizten Bürgerkrieg und vom auch dadurch beförderten Vormarsch des IS, lange unterstützt von der Türkei, „produziert“ wurde – geschenkt.)
Am 12. Februar mit dem eingangs zitierten Beitrag von Michael Stürmer, der überdies mitzuteilen wusste, „dass das Vertragsgebiet des Nordatlantikpaktes heute […] indirekt auch Finnland und Schweden [umfasst]“. (Da muss es wohl auch eine NATO-Norderweiterung gegeben haben.)
Am 17. Februar mit einem Interview, in dem der ehemalige britische Regierungschef Tony Blair gegenüber Russland klare Kante zeigte: „Wenn notwendig, müssen wir auch eine direkte Konfrontation eingehen.“
Am 23. Februar mit einem Namensbeitrag des früheren Staatsoberhauptes von Litauen, Vitautas Landsbergis: „Das putinsche Russland ist heute die größte Bedrohung unserer Zivilisation. […] Deshalb behaupte ich: Besser ohne Russland Politik machen als unter Russland.“ (Da bleibt den Führungen der übrigen BRICS-Staaten und der anderen Mitglieder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die immer noch ein kooperatives Verhältnis zu Russland pflegen, nur zu wünschen, dass sie ihr Weltbild durch regelmäßiges Welt-Lesen endlich auf Vordermann bringen.)
Und so weiter und so fort.