19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Merkel und Gablé. Nachrichten aus der Debattiermaschine (XLI)

von Eckhard Mieder

In den historischen Romanen der Autorin Rebecca Gablé verfügen die englischen Königinnen über die Macht, mit einem Federstrich Veränderungen herbeizuführen. Inklusive der Vernichtung von Leib und Gut. Inklusive der eigenen Hinrichtung, wenn es neue Machtbündnisse erfordern. Ich mag diese Romane, ich mag diese Aussagen. Ich mag diese Illusionen, ich mag diese Phantasien von ritterlichen Männern, von exzellenten und abscheulichen Bösewichtern. Ich lese gern von starken Frauen, von ihrer Begabung für Kabale und Realpolitik. Immerhin sind die Stoffe, scheint es, geschichtlich recherchiert, und gewürzt mit Erfindungen von Personen und Handlungen und Sprache sind die Bücher für mich unterhaltsam und spannend.
Durch die gegenwärtigen Berichte über Angela Merkel und ihre Möglichkeiten der Machtausübung scheint etwas Ähnliches, etwas – Majestätisches (oder Majestätisierendes) durch. Die Merkel hat, die Merkel muss, die Merkel kann; die Merkel hat nicht, die Merkel muss nicht, die Merkel kann nicht. Es wird aber Zeit, dass die Merkel. Durchgreift. Einen Schlussstrich zieht. Sich äußert. Das gesamte (?) Deutschland lechzt nach dem Urteil und nach einer Haltung – der Königin aus der Uckermark?
Wenn ich diese Berichte, Kolumnen, Kommentare Kaffeesatz-Unkereien lese, sehe, höre, fühle ich mich in eine Monarchie versetzt. Ich weiß natürlich nicht, wie ich mich in einer Monarchie fühlen würde; wohl weiß ich noch ungefähr, wie ich mich in der „Diktatur des Proletariats“ fühlte. Das muss ähnlich sein: Zu glauben, die (ob es nun ein kollektives oder eine unitäre Die ist) da oben sollen es weisen. Sollen mich führen. Sollen mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Zu meinen, die haben / hat für mein persönliches Wohlergehen und dafür zu sorgen, dass mir kein Leid geschieht. Das Land, in dem sich lebe, soll sicher sein, nach innen und nach außen. Mein Essen soll jeden Tag auf dem Tisch stehen. Ich möchte ein gewisses Maß an Kultur und Bildung garantiert haben. Ich brauche weder Yacht noch Eigenheim in der Toscana. Hauptsache die Rente ist sicher, die Heizung fällt nicht aus und meine Frau hat mich lieb. Und wenn es Zeiten gibt, in denen alles auf Krise, Katastrophe, Kalamitäten samt und sonders hinausläuft –, dann brauche ich eine Kraft, die mich hält und mir mit Roger Whitakers Stimme zusingt: „Siehst du den Silberstreif am Horizont? Schon fängt ein neuer Morgen an. Du – du bist nicht allein. Niemals mehr allein.“ Denn ich, deine Königin Merkel, bin bei dir!
Ist das so? Brauche ich diese eine Kraft? Muss ich mir gefallen lassen, dass ein demokratisch verfasster Staat mitsamt einer 80-Millionen-Bevölkerung allein von Wort und Tat einer Königin abhängt? Abzuhängen scheint? Als gäbe es weder Regierung und Parlament noch Volkes Stimme? Über Wochen und Monate nun schon wird mir erzählt, dass die Merkel hat, kann, muss, dass die Merkel nicht hat, nicht kann, nicht muss.
Doch, ich muss es mir gefallen lassen. Ich weiß nicht, mit welcher Gewalt ich gegen eine Realität (oder gegen die Beschreibung einer Realität) vorgehen kann. Vernunft allein ist billig und wird von jedem beansprucht; es sei denn, jemand ist sowieso Obskurant, Verschwörungstheoretiker oder Fanatiker. Obwohl: Auch die berufen sich auf die Vernunft, es hat halt jeder seine.
Höre ich, was ich höre? Sehe ich, was ich sehe?
Die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann soll vor 20 Jahren anlässlich eines Besuches in der Redaktion der F.A.Z. gesagt haben: „Was Sie heute in den Köpfen der Menschen finden, das ist oft nicht mehr die Realität, sondern eine von den Medien konstruierte Wirklichkeit.“ (Vermutlich hätte das auch am Anfang der Massenmedien gesagt werden können; vermutlich wird das in 20 Jahren ebenso gesagt werden.) Mit anderen Worten: „Du, Bürger, bist doch gar nicht in der Lage, die Realität in ihrer Komplexität, Diversität, Funktionalität und sonstiges Tätäretät, zu überschauen; für dich, Bürgerin, berichten wir Spezialisten von Funk, Fernsehen und Print!“
Und also lebe ich seit einiger Zeit unter einer Monarchin, die immerhin eine gewisse Meinungsvielfalt gestattet. Sonst könnten nicht so viele das Gleiche sagen und behaupten, sie sagten etwas anderes. Es kostet auch nicht mehr den Kopf, niemand wird gevierteilt, niemandem verschwindet im Tower. Jedenfalls nicht in diesem gesegneten Deutschland unter einer gesegneten Königin, deren Thron wackelt. Sagen die einen. Die anderen sagen das Gegenteil. Soviel Demokratie muss sein.