18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Mein Flüchtlingsschicksal

von Heino Bosselmann

Auch ich habe ein Flüchtlingsschicksal. Ein unfreiwilliges. Noch absurder: Ich musste mich bei meiner Flucht 1990 nicht einmal bewegen. Obwohl ich Ignorant sie gar nicht wollte, nein, ich wurde ungefragt dazu gedrängt, geschoben, mitgerissen. Die Mehrheit meiner Landsleute wünschte sich damals nämlich endlich den Zugang zum Super-Markt, nur galt dies als Ausdruck eines jahrzehntelang aufgestauten Wunsches nach Demokratie. Dass diese „Volksherrschaft“ mit der Herrschaft des Marktes verbunden war, galt den meisten als Schnäppchen.
Außerdem war kein gefährliches Meer zu überwinden, und man musste nicht einmal Sprachkurse belegen, denn das Ziel der Flucht war das gleichfalls deutsche Nachbarland, das nach eigenem Selbstverständnis zur „freien Welt“ gehörte und in uns die verirrten „Brüder und Schwestern im Osten“ sah. Was das wiederum mit dem Jahr 1945 und dem Kalten Krieg zu tun haben mochte, interessierte kaum mehr, denn es ging wie immer ums Jetzt, also um den gerade vorbeihuschenden „Mantelsaum der Geschichte.“
„Drüben“ hatten sich in über vierzig Jahren irgendwie evolutionär die Demokraten entwickelt, worauf die Westdeutschen sehr stolz waren, zumal sie zu erkennen meinten, wie sehr wir in der DDR politisch retardierten. Dass insofern ein gutes Deutschland neben einem schlechten bestand, war dem Westen seit Adenauer klar, und er hatte das kraft Hallstein-Doktrin und Springer-Verlag rundum lautstark vertreten. Und tatsächlich, wir als „Sieger der Geschichte“, so hinter Mauer und Stacheldraht, die Sperren der Grenzen nicht nach außen, sondern nach innen gerichtet: War das bei aller Tragik nicht auch lächerlich? Außerdem: Rein rechtlich, erläuterte der Westen, gab es uns eigentlich nicht. Daher brauchten wir, gelang die Flucht, erst gar keinen neuen Pass zu beantragen, nein, der lag schon bereit, weil der Ausweis, mit dem wir unterwegs waren, doch gar keine staatsbürgerliche Gültigkeit beanspruchen durfte. Im Gegenteil, der konnte einfach so weg. Doppelte Staatsbürgerschaft? Doch nicht für echte Deutsche! Sogar die Nummernschilder unserer großen Städte, das L für Leipzig etwa, waren vorsorglich reserviert, ganz abgesehen davon, dass das Westfernsehen für uns mitgesendet hatte, selbst den Wetterbericht, anfangs sogar in den Grenzen von 1937.
Jedenfalls hatten meine Landsleute bereits seit dem Sommer 1989 nicht nur das ungarische Loch im Eisernen Vorhang genutzt, um flink in den freiheitlichen Westen zu huschen, sie hatten überdies Botschaften der anderen deutschen Republik besetzt, insbesondere jene in Prag, wo 4000 von ihnen am 30. September der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher erschien, um den „lieben Landsleuten“ (sic) mitzuteilen, „dass heute Ihre Ausreise …“ – Ach, man kennt ja den Satz und das darauf folgende Gejohle – und hat rückschauend den Eindruck, der Ex-Hallenser hätte nicht unterm Scheinwerferlicht auf dem Botschaftsbalkon gestanden, sondern in einer Gloriole. Was für ein erstes deutsch-deutsches Sommermärchen doch! Und wie die damaligen Bilder den heutigen gleichen: Immigranten belagern die Behörde eines anderen Staates, sie hausen in Zelten, kampieren auf dem Rasen, verderben die schön gepflegten Rabatten, hoffen aber dennoch, zum Sektempfang in das Haus des reichen Nachbarn eingelassen zu werden.
Peinlicherweise fand ich es damals peinlich, wie sich meine bescheidenen Landsleute plötzlich aufführten. Als kämen sie aus einem Entwicklungsland! Klammheimlich verdrückten sie sich und stiegen über fremde Zäune – eine Dreistigkeit, die dadurch getoppt wurde, dass sie nach dem Hausfriedensbruch nebenan ebendort gleich noch um Kost und Logis bettelten. Als wäre man Bittsteller und auf Almosen angewiesen! Macht man nicht, dachte ich. Und die Betroffenheitstränen bei den Interviews in der großen Freiheit missfielen mir erst recht. Ja, ich fand das alles blamabel! Aber peinlich oder blamabel, so zunächst die Kommentatoren und später die Geschichtsschreiber, wäre es gerade nicht gewesen, nein, es zeugte vielmehr von tapferem Widerstand gegenüber der Diktatur, aus der Tausende flohen.
Gut, abzuhauen kann als passiver Widerstand gelten. Jene vorzugsweise intellektuellen und vollbärtigen aktiven Widerständler waren indessen nicht so zahlreich. Sie saßen, von der Stasi abgehört, bei ärgerlichem Cabernet in ihren Altbauwohnungen oder unterm Dach der Kirche und planten ganz subversiv politisch eine Erneuerung. Wie immer an den Massen vorbei. Die von ihnen angestrebte neue deutsche demokratische Republik – „Anmut spartet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand“ – stellte sich schon ganz kurzfristig als Illusion heraus.
Der Erfolg gab nun mal jenen Recht, die mit ihren Stone-washed-Jeans durch den ungarischen Zaun schlüpften oder auf das Gelände von Westbotschaften kletterten. Es mag eine geschichtliche Konstante darin zu erkennen sein, dass sich nie die Intellektuellen durchsetzen, sondern jene, die wissen, wo es das, was sie suchen, am schnellsten und am günstigsten gibt. Also Discounter statt Deklarationen oder gar das Gebastel an einer Verfassung, die kaum einer wollte, weil es doch das Grundgesetz und seinen Beitrittsparagraphen ganz verbraucherfreundlich längst gab. Zum Nulltarif! Für umme! Deswegen blieb das, was heute „die friedliche Revolution“ genannt wird, so etwas wie eine flüchtige und alsbald verklärte Romanze des untergehenden Landes mit sich selbst, während von dieser kurzen politischen Selbstbefriedigung eine Restauration ausging, die das, was der Westen bereits sattsam erprobt hatte, auf den Osten übertrug. Es sollte sein Nachteil nicht sein: Alsbald zogen mit der „Treuhandanstalt“ die Lokatoren durchs Land und machten ihren Schnitt.
Werbetechnisch wurde das von der Politik der damaligen Mitte auf eine griffige Formel gebracht: „Wohlstand statt Sozialismus!“ So plakatierte die „Deutsche Soziale Union“ als Teil der „Allianz für Deutschland“, die dann die letzten und gleichsam die ersten freien Wahlen in der DDR gewann. Wohlstand – was für ein feistes Wort! Verstand jeder. Genau dieser Wohlstand wird heute ebenso von den Balkan-Flüchtlingen gesucht. Und natürlich die Demokratie. Und die Freiheit. Klar. Aber vor allem wünscht man sich, endlich den großen Einkaufswagen durch den Super-Markt zu schieben. Bürgerrecht interessiert da weniger, man sieht es an der Wahlbeteiligung, es wird zum Verbraucherschutz geschrumpft. Mag sein, man liest bisweilen noch gelangweilt die allgemeinen Geschäftsbedingungen. Aber die Verfassung liest man nicht.
Ich wollte damals nicht fliehen, aber ich musste, denn die Mehrheit war dafür und nahm uns paar Grantler überstimmt einfach so mit. Der Gang der Geschichte sowieso. Wir wurden von ihr in Haftung genommen. Innerhalb der Frist nur eines Jahres lebte ich in einem anderen Land, obwohl sich die Kulissen zunächst kaum verändert hatten. Erst wurde ich mit einem Begrüßungsgeld korrumpiert, das ich schweigend und betreten annahm, um mir davon die blaue Gottfried-Benn-Ausgabe des Fischer-Verlages zu kaufen. Erstens wünschte ich sie mir, zweitens ging es mit 98 Mark fast genau auf und reichte noch für ein Eis. Ein italienisches! Es begann mit dem neuen Zaster, und es blieb dann dabei. Sie hatten mich. Mitgefangen, mitgehangen. Von Büchern allein konnte man nicht überleben, man musste das Notwendige im Super-Markt kaufen – und wurde selbst dessen Teil, verkaufte also sich und kaufte dann wieder ein. Das erste notwendig, das zweite offenbar die Freiheit.
Worin sich meine 1990 auf der Flucht befindlichen Landsleute rein prinzipiell von den Bootsflüchtlingen vor Lampedusa oder Kos unterschieden, insbesondere ökonomisch, das hat sich mir nie erschlossen. Gut, wer aus Kosovo, aus Albanien oder Eritrea kommt, der liefert nicht gleich noch sein Land mit aus, aber das holt sich der Super-Markt früher oder später sowieso oder hat es schon längst im Lager. Auf ihn ist Verlass, mehr noch als auf Demokratie und Freiheit.