18. Jahrgang | Nummer 11 | 25. Mai 2015

Der Westen & Russland – zum Diskurs

von Wolfgang Schwarz

Karsten Voigt hat in seinem Beitrag in der Blättchen-Ausgabe 9/2015 erklärt, dass ihn die Argumente des Autors zu den Ursachen der Ukraine-Krise und der Verschärfung im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland in der vorhergehenden Ausgabe nicht überzeugt haben. Über die Ausführungen beider Disputanten und deren jeweilige Stichhaltigkeit mag im Einzelnen der Leser urteilen. Dennoch soll auf einige Fragen, die Voigts Beitrag aufwirft, hier nochmals eingegangen werden, weil sie essentiell für eine Entspannung der eingetretenen Lage und für die Perspektiven der europäischen Sicherheit sind.
Voigt meint, dass der „zeitliche Ablauf der Ereignisse in der Ukraine und die offizielle Begründung Putins für sein Verhalten“ dagegen spräche, in der Annexion der Krim und im russischen Agieren in der Ostukraine „vor allem eine Reaktion auf die Sicherheitspolitik der NATO und insbesondere der USA“ zu sehen. Voigt weiter: „Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO stand zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht zur Debatte.“
Letzteres mag als tagespolitischer Schnappschuss sogar zutreffen, als darüber hinaus gehende Aussage ist der Satz jedoch schlicht falsch. Eher müsste man formulieren: Spätestens seit der Grundsatzentscheidung der NATO von 2008, auch die Ukraine und Georgien zu integrieren, stand diese Frage, betrachtet man nur das Agieren der USA in und hinter den Kulissen, zu keinem Zeitpunkt nicht auf der Tagesordnung. Und die USA sind für Moskau in dieser Frage nun mal die maßgebliche Größe. Dagegen kommt Deutschlands Weigerung von 2008, seinerzeit gleich auch noch unmittelbare Beitrittsverhandlungen mit den neuen Kandidaten aufzunehmen, aus Moskauer Sicht kein vergleichbares Gewicht zu. Die historische Regelerfahrung besagt einfach, dass die deutsche Regierung, kommt es zum Schwure, sich doch meist der Bündnisräson unterwirft.
Und was die Intentionen der USA und anderer NATO-Staaten hinsichtlich einer militärischen Westanbindung der Ukraine als strategisches Ziel anbetrifft, sieht Moskau sich auch seither ein ums andere Mal bestätigt: Die gemeinsamen Manöver der NATO und der Ukraine auf deren Territorium und im Schwarzen Meer wurden intensiviert, britische und US-„Ausbilder“ sind inzwischen permanent vor Ort, die NATO-Staaten Polen und Litauen bilden mit der Ukraine zusammen eine gemeinsame Brigade …
Artikuliertem russischen Sicherheitsinteresse entspräche eine militärisch neutrale Ukraine. Wenn man dies nicht konzediert – Karsten Voigt drückt sich um eine Antwort auf diese Frage –, dann wird, so steht zu befürchten, für die Ukraine auf absehbare Zeit bestenfalls nur ein weiterer „eingefrorener“ Konflikt mit dem Risiko jederzeit erneut möglicher Eskalation erreichbar sein.
Voigt seinerseits hält offenbar Säbelrasseln für eine sinnvolle Option, denn er schreibt: „Deshalb verhalten sich die Nachbarn Russlands, die nicht Mitglied der NATO sind – wie Finnland und Schweden – und NATO-Mitglieder – wie die baltischen Staaten und Polen – völlig rational (Hervorhebung – W.S.), wenn sie entweder ihre eigenen Verteidigungsanstrengungen (Hervorhebung – W.S.) verstärken oder glaubwürdigere Garantien der NATO verlangen.“ Und: „Deshalb befürworte ich […] jetzt auch häufigere NATO-Manöver in den ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten und ebenfalls die Vorbereitung auf die Möglichkeit der Verlegung größerer NATO-Einheiten im Falle einer Krise.“ Voigt verliert dabei, ebenso wie die von ihm benannten Staaten, leider aus dem Blick, dass im Hinblick auf einen Großkonflikt mit Russland, schon gar einen nuklearen, der Begriff der Verteidigung völlig sinnentleert ist, weil tatsächlich dann Vernichtung stattfände. Insofern gleicht die von Voigt bescheinigte „Rationalität“, zugespitzt formuliert, derjenigen von potenziellen Selbstmördern. Den von Voigt historisch hergeleiteten und wortreich beschriebenen Ängsten der Nachbarstaaten vor russischer Aggressivität ist militärisch nicht beizukommen, auch mit „glaubwürdigeren NATO-Garantien“ nicht, und man leistet diesen NATO-Partnern und Nicht-NATO-Staaten einen Bärendienst, wenn man sie in ihren Placebo-Anstrengungen auch noch verständnisvoll bestärkt.
Es ist zwar lange her, aber nach dem Bericht der Internationalen Palme-Kommission von 1982 war es auch schon mal sozialdemokratisches Gedankengut – und Karsten Voigt hat die entsprechenden damaligen Ost-West-Debatten mit geführt –, dass man Sicherheit im Verhältnis zu einer Nuklearmacht nicht errüsten, sondern nur als gemeinsame Sicherheit politisch organisieren kann. Die Alternative im Rahmen von Abschreckung und militärischer Konfrontation ist bestenfalls ein beidseitig gleiches Maß an Bedrohung und Unsicherheit – und zwar immer unter dem atomaren Damoklesschwert. Denn es „läßt sich logisch nicht widerlegen, daß ein Fehlschlag der Abschreckung möglich ist“. So Karl Kaiser schon 1985 in seinem Aufsatz „Kernwaffen als Faktor der internationalen Politik“, der auch Karsten Voigt geläufig sein sollte.
Auch auf diesen Erkenntnissen beruht der konzeptionelle Ansatz für eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland, den auch der Autor verficht und der hier nicht wiederholt werden muss. Zu diesem Ansatz passen im Übrigen andere Überlegungen Voigts, etwa zur Stärkung der OSZE, ohne weiteres.

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Vorschläge zu einem (radikal) veränderten militärischen Umgang mit Russland hat jüngst auch der frühere Stratege sowie Berater im Büro des US-Verteidigungsministers und jetzige Senior Fellow am Brent Scowcroft Center on International Security at the Atlantic Council, Matthew Kroenig, ersonnen und in der Survival-Ausgabe Februar-März 2015 publiziert.
Die osteuropäischen NATO-Staaten müssten sich demzufolge „unverdaulich für eine russische Okkupation“ machen. „Lokale Streitkräfte sollten Guerilla-Kriegführung trainieren, um Zeit für verbündete Verstärkungen zu gewinnen und, wenn notwendig, den Aufstand gegen russische Truppen zu wagen.“ Der Vorschlag des NATO-Oberbefehlshabers Europa, des US-Generals Philip Breedlove, „ein vorn stationiertes Hauptquartier in Ost-Europa“ zu errichten, findet Kroenigs Zustimmung. Die osteuropäischen NATO-Staaten müssten „mit modernen Panzern, Kampfflugzeugen, Artillerie- und Luftverteidigungssystemen“ ausgerüstet und die derzeitige Stationierung von NATO-Streitkräften im Baltikum müsse „ausgeweitet und verstärkt“ werden.
Darüber hinaus müsse die NATO „die Entwicklung und Stationierung einer neuen Generation substrategischer Kernwaffen in Europa“ in Angriff nehmen, denn die derzeitigen – amerikanische taktische Atombomben mit Trägerflugzeugen an Stationierungsorten vornehmlich in Westeuropa – befänden sich „ohne Luftbetankung und/oder Umgruppierung außerhalb der Reichweite eines Konflikts im Baltikum“ und seien „überdies hoch verletzbar durch russische Luftabwehr“. Die NATO solle daher „die Stationierung jeglicher taktischer Systeme in Europa erwägen, die sich als nützlich auf dem Schlachtfeld erweisen könnten“. Entsprechende Rüstungsmaßnahmen könnten „Gefechtsköpfe mit variabler Sprengkraft einschließen, nukleare see- und luftgestützte Cruise Missiles sowie die mögliche Vorverlegung frei fallender Atombomben“. Die sind derzeit unter anderem in Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Italien stationiert. Erster Kandidat für eine künftige Dislozierung ist laut Kroenig – Polen.
In der folgenden Survival-Ausgabe verwies Steven Pifer, Chef der Brookings Institution Arms Control and Non-Proliferation Initiative, vor dem Hintergrund des Kroenig-Beitrages überdies auf die „Aussicht, dass die Vereinigten Staaten die Pershing II Rakete wiederbeleben oder eine Pershing III entwickeln“ könnten.
Kroenigs Rezeptur liefe auf nichts weniger denn allgemeine militärische Konfrontation hinaus, wie sie die Jahrzehnte des Kalten Krieges in Europa bestimmt hatte. Egon Bahr und Götz Neuneck trafen daher in ihrer Erwiderung auf den US-Ultra-Falken den Punkt mit ihrer Feststellung: „Das wirkliche Opfer eines solchen Kurswechsels wäre, wie auch immer, Europa selbst.“ Und: „Wenn NATO-Führer auf Kroenigs Rat hören, kann man nur folgern, dass der Titel seines Artikels Realität wird.“
„[…] Getting NATO Ready for a New Cold War“, hatte dieser Titel gelautet.
Man mag Kroenig mit seinen Auffassungen für eine extreme Einzelstimme halten, wie das dem Autor gegenüber ein intimer Kenner der strategischen Debatten-Szene und -Kultur in den USA getan hat, für eine Stimme also, die im Hinblick auf die tatsächlichen militärischen Entwicklungen in den USA und in der NATO nicht relevant ist oder werden wird.
Aber selbst dann hat die Kroenig-Medaille noch eine zweite Seite. Man sollte nämlich eine Eigentümlichkeit nicht aus dem Blick verlieren, die bereits für das sowjetische Militär charakteristisch war: Dort wurde praktisch alles, was in den USA und von amerikanischen Experten, regierungsnahen oder solchen mit administrativer Vergangenheit allemal, in seriösen Medien publiziert wurde, entweder mit offizieller Strategie und Politik gleichgesetzt oder zumindest als reale Gefahr für die unmittelbare Zukunft interpretiert. Und daraus wurden, ohne die betreffenden amerikanischen Äußerungen jeweils zugleich auf ihren technologischen, politischen und fiskalischen Realitätsgehalt und Machbarkeitsgrad hin abzuklopfen, Schlussfolgerungen – Statements, Empfehlungen und Hardwareforderungen – gegenüber der eigenen politischen Führung abgeleitet. Das galt während des Kalten Krieges zum Beispiel für Reagans SDI-Pläne einer weltraumgestützten Raketenabwehr und für die vorausgegangene inneramerikanische Debatte über die Führbarkeit und Gewinnbarkeit eines Nuklearkrieges gegen die UdSSR, die durch den Essay „Victory is possible“ von Colin S. Gray und Keith Payne (1980) initiiert worden war.
Kenner des heutigen russischen Militärs unterstreichen, dass diese Eigenheit aus Sowjetzeiten bruchlos überlebt hat. Russland dürfte sich daher von solchen Debatten wie im Survival im Endeffekt mindestens in seiner ob der konventionellen Überlegenheit der NATO sowieso schon ablehnenden Haltung, Verhandlungen über substrategische Kernwaffen und deren Abbau aufzunehmen, bestätigt sehen.