18. Jahrgang | Nummer 8 | 13. April 2015

Sätze über Bildung

von Heino Bosselmann

Obwohl fortlaufend darüber geredet wird, ist über Bildung kein klares Gespräch mehr möglich, denn der Begriff erscheint mittlerweile pauschal so positiv konnotiert wie semantisch unklar. Sein politischer Dauergebrauch griff ihn ab.
Diese grundsätzliche Schwierigkeit wird noch vergrößert durch das gesellschaftliche Bedürfnis, eine neoliberal durchrationalisierte Basis möge durch einen gerechtigkeitsrhetorischen Überbau kompensiert werden, der „menschenbildlich“ einen Erziehungs-, ja Volksbildungssozialismus ermöglichte, während es anderseits nur mehr um quantifizierbare beziehungsweise digitalisierbare Parameter von Reproduktionsprozessen geht. Der Mensch im Mittelpunkt? Sicher! Jedoch allein in seinen Eigenschaften als Produzent und Konsument, längst nicht mehr als humanistische Idee.
Während die res publicae an Lebendigkeit eingebüßt haben und durch den Utilitarismus von Verbraucherentscheidungen abgelöst sind, werden gegenläufig die übrig gebliebenen Sprechblasen Demokratie, Toleranz und Pluralismus im Popbegriff von der „bunten Republik“ ventiliert, so als wolle sich die verunsicherte „politische Klasse“ ihrer selbst wie in religiösen Bekenntnisübungen versichern.
Die als historische Errungenschaft immens wertvollen bürgerlichen Grundrechte, für deren Wahrnehmung es eines Fundaments sprachlicher und kultureller Befähigungen bedarf, finden sich von immer weniger Bürgern genutzt und gepflegt, sondern allenfalls von leichtgewichtigen Talkshows und Bloggerei ersetzt – unterhaltsam, gar pointiert und gewitzt, aber allzu oft unpositioniert und als Gequassel des bloßen Meinens im Ungefähren verbleibend.
Eine Generation, die einerseits über den Gebrauch der digitalen Medien mehr als jede andere vor ihr auf das Wort angewiesen ist, beherrscht dieses weit weniger als ihre Vorgänger und hat sich unkompliziert auf den Konsens geeinigt, dass schon richtig ist, was irgendwie verstanden wird. Man setze dazu nicht gleich das klassische Bildungsbürgertum in Kontrast, sondern erinnere sich einfach an die Arbeiterbildungsvereine und damit an die Unterprivilegierten des vorvorigen Jahrhunderts, denen bewusst war, dass echte Teilhabe mit dem Vermögen zur kulturellen Partizipation beginnt.
Historisch wäre zu fragen, wann hinsichtlich „Bildung“ eine politisch vorgeschriebene Anthropologie Raum griff, die per se allen alles zutraut, jeden zum Talent erklärt, überall Hochbegabung diagnostiziert, aber die Bringeschuld des schulischen Erfolgs auf den sich als Coach zu verstehenden Lehrer verlegt, das Schwergewicht des Schulischen von Inhalt und Substanz weg auf Methode und Kompetenzerwerb verschiebt (so, als könne man das Stricken ohne Wolle erlernen), von der Inklusion von all und jedem per Dekret das Heil der Gerechtigkeit erwartet und über die Reduzierung von Anforderungen sowie die Inflationierung der Bewertungen das Abitur und Hochschulabschlüsse so gut wie jedem auszudrucken bereit ist – im Wunschdenken, damit schaffe man endlich sehr vereinfacht „Chancengleichheit“. Die jedoch liegt vielmehr in rechtlich längst garantierten gleichen Voraussetzungen als in der vorab versprochenen Garantie von Zeugnissen, die immer weniger aussagen, weil immer mehr ein Anrecht darauf haben und sie mit immer weniger Anstrengung wie selbstverständlich ausgestellt bekommen.
Weshalb fällt niemandem auf, dass es einerseits so viele Abiturienten und Hochschulabsolventen mit Bestnoten wie noch nie gibt, andererseits aber Fachkräftemangel sowie elementares Unvermögen von Lehrlingen und Studenten zu beklagen sind. Der Zusammenhang ist genau darin zu suchen, dass zwar immer mehr Schüler und Studenten durchgereicht als abiturabel und studierfähig gelten, aber immer weniger davon tatsächlich etwas können, am wenigsten im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik – d. Red.) und im Sprachlichen. Dahinter steckt allein eine primitive politische Maßgabe: „Mehr Abi – mehr Job!“ Wobei ferner über die wesentlichen Unterschiede zwischen „Abi“ und Reifeprüfung sowie „Job“ und Beruf nachzudenken wäre.
Mag ja sein, es werden längst viel weniger „Spezialisten“ gebraucht und eine immer kleinere Gruppe an Wissenschaftlern, Ingenieuren und Informatikern erscheint technisch und arbeitsteilig in der Lage, eine wachsende Masse tumber Konsumenten zu organisieren und zu verwalten, die passabel auf Discounter-Niveau lebt, sich von der Medien-Industrie unterhalten findet und längst kein Bedürfnis mehr nach dem Politischem oder ihre Existenz bestimmenden Ideen hat. – Das Bürgertum der beginnenden Moderne wünschte sich einst den kompetenten Leistungs- und Entscheidungsträger, der in der Lage ist, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Arbeiterschaft wollte damit ehrgeizig gleichziehen, und die DDR träumte gar vom „neuen Menschen“. Man setzte auf echten Bildungserfolg „im Sinne der Sache“. Das ist, scheint es, endgültig vorbei. Und vielleicht bleiben ja überhaupt bald nur noch Alte und Altenpfleger.
Eine gerade in ihrem gesamten Reichtum sozial immer ungerechtere und kältere Gesellschaft erwartet allerdings weitgehende Übereinstimmung mit drei maßgeblichen „Grundvereinbarungen“, die in sich ebenso unklar sind wie sakrosankt: Mehr Europa! – Gegen rechts! – Mehr Bildung! So als legte sich die neoliberale Umgestaltung werbewirksame Legitimationslegenden zu, denen selbst ihre Gegner zuzustimmen bereit sind.
Vor diesem Hintergrund werden immer neue Trost- und Heilsbegriffe generiert, von denen sich „die Politik“ nicht weniger als Rettung erwartet. „Ganztagsschule“ etwa ist ein solches Wort. Es steht für eine Schule, die den Heranwachsenden weitestgehend aus der offenbar als böse empfundenen „Welt da draußen“ heraushält, die „Projekte“ inszeniert, anstatt am Leben selbst zu schulen, und die mit all ihrer Betreuung abschirmt von den produktiven Widersprüchen der Gesellschaft. Ja, vermutlich gilt sich die gesamte Berliner Republik als eine politische Ganztagsschule im Sinne eines hoffnungsvollen Als-ob jenseits der als unerquicklich empfundenen Realität. So, wie man aus Gesundheitsgründen das Rauchen in den Kneipen verboten hat, kann man, wird angenommen, alle anderen menschlichen und politischen Fährnisse juristisch regeln. – Nein, diese regeln sich früher oder später selbst, und zwar immer jenseits der „Grundvereinbarungen“.
Besonders der ethische Zentralbegriff der Menschenwürde erfährt neuerdings eine Umdeutung: Er fungiert nicht mehr als Grundlegung eines individuellen Persönlichkeitsrechts aller, sondern als Anrecht auf beste Abschlüsse und damit maximale Teilhabe. Der Staat garantiert als freundlicher Dienstleister allen etwas, was nie und nimmer zu garantieren ist und letztlich zur Ausstellung ungedeckter Schecks führt. Insofern agiert staatliche Bildung wie eine Pleitebank. Hohe Bildungsabschlüsse, für die einst Wissen und Fähigkeiten nachzuweisen waren, sollen nicht länger nur rechtlich gleiche Möglichkeit, sondern sogleich schon Wirklichkeit sein. Begriffe wie Anstrengungsbereitschaft und Selbstüberwindung kennt die moderne Pädagogik überhaupt nicht mehr; sie ist, bekennt sie entgegenkommend, bereit, jeden dort abzuholen, wo er steht.
Nach der Herleitung Immanuel Kants kommt dem Menschen Würde zu, weil er in der Lage ist, frei und vernünftig über seine Geschicke zu entscheiden. Dafür ist aber zweierlei nötig – der Staat, der dafür Willkürfreiheit gewährt und anderseits seine Verantwortung darin sieht, Menschen ausbildend zu befähigen, sich würdig zu verhalten. Um das zu erreichen, bedarf es aber eingangs einer Bildung, die noch ausbildet und Haltungen anerzieht. Beides in einem durchaus mühevollen Prozess, der Kulturformen etabliert.
Insofern neben weitgehendem Erziehungsversagen ein ebenso weitgehender Verzicht darauf erfolgt, elementaren kulturellen Fähigkeiten wie richtigem Schreiben, Lesen und Rechnen sowie einem umfassenden naturwissenschaftlichen Weltbild ganz entscheidenden Wert zuzumessen, vernachlässigt die Gesellschaft die Ausbildung mündiger Bürger, deren vorzügliche Befähigung letztlich die Urteilskraft wäre. Mit diesem Defizit aber wird die Demokratie von innen gefährdet.