18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Ein Jahr nach dem Maidan: Was hatʼs gebracht?

von Kai Ehlers

22. Februar vor einem Jahr in Kiew: Ließen wir alle Polemiken beiseite; beschrieben wir nur, was an diesem Tag vor einem Jahr faktisch geschah, dann klänge das ungefähr so:
Nachdem der über Monate gewachsene Protest gegen eine korrupte Regierung und die Forderung nach Westöffnung des Landes im Rahmen des von der EU angebotenen Assoziierungsvertrages am 21. Februar in einem Massaker gipfelte, wurde der amtierende Präsident Viktor Janukowytsch am 22. Februar unter dem militanten Druck des Maidan abgesetzt und gegen eine provisorische Regierung ausgetauscht. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer für das Massaker die Verantwortung trägt.
Die neue Regierung wurde aus Mitgliedern der bisherigen Parlamentarischen Opposition und Vertretern des Maidan gebildet. Die unter Vermittlung von Vertretern der Europäischen Union mit Janukowytsch zustande gekommene Vereinbarung über die Bildung einer vorübergehenden Koalition der Nationalen Einheit und vorgezogene Neuwahlen kam nicht zustande. Stattdessen übernahm eine provisorische Regierung die Macht. Sie exekutierte ihre neue Macht umgehend durch verschiedene Erlasse, unter anderem durch Aufhebung des unter Janukowytsch eingeführten Gesetzes zum Schutz sprachlicher Minderheiten. Die neue Regierung erklärte, Ukrainisch als einzige Sprache für das Land durchsetzen zu wollen.
Das Gesetz führte zu schockartigem Erschrecken bei der russischsprachigen Bevölkerung des Landes. Es wurde daraufhin zurückgezogen, hatte zu der Zeit aber seine Wirkung schon getan. Die Regionalbehörden der Krim erklärten ihre Absicht, auf der mehrheitlich russischsprachigen Halbinsel ein Referendum für deren Lösung von der Ukraine durchführen zu wollen. Begründung: Angst vor den aggressiven Absichten der Nationalisierung seitens der provisorischen Regierung. Der Ausgang des Krim-Referendums, in dem die Bevölkerung mit großer Mehrheit für die Abtrennung von der Ukraine stimmte, führte zur effektiven Sezession und zum Eintritt der Krim in den Staatsverband der Russischen Föderation.
Das Beispiel der Krim animierte auch die Bevölkerung des Donbass zu Referenden für eine Autonomie ihrer Gebiete, die danach in Forderungen nach Sezession, zwischendurch nach denen der Bildung eines eigenen Staates „Noworossia“, nach Eingliederung in die Russische Föderation übergingen, und – als dies von Russland nicht aufgegriffen wurde – zur Bildung der beiden Volksrepubliken Donezk und Lugansk führten.
Die Kiewer Übergangsregierung, seit Mai die neu konstituierte Regierung der geteilten Ukraine unter Petro Poroschenko, akzeptierte weder die Sezession der Krim und deren Eingliederung in die Russische Föderation noch die Forderungen der Regionen des Donbass nach Autonomie innerhalb der Ukraine, und ebenso nicht die späteren Vorstellungen vollkommener Unabhängigkeit, sondern erklärte die Vertreter dieser Positionen zu Terroristen und ging gegen sie militärisch vor.
Bis heute verweigert der gegenwärtige Präsident der Kiewer Ukraine das direkte Gespräch mit den Vertretern dieser Volksrepubliken.
Im Rahmen dieser gegenläufigen Positionen hat sich der ukrainische Bürgerkrieg entwickelt und in die – nicht zuletzt ideologischen und emotionalen – Unvereinbarkeiten und brutalen Aggressionen bis hin zu Pogromen gesteigert, in denen die Teile des Landes aufeinandergeprallt sind und sich bis heute gegenüberstehen.
Fragen wir nun, was hatʼs gebracht?
Eine Westöffnung des Landes wurde nicht erreicht – erreicht wurde eine Teilung des Landes in einen mit der EU assoziierten Westen auf der einen und einen mit Russland faktisch verbündeten Osten auf der anderen Seite, die miteinander in diesem erbitterten Bürgerkrieg verhakt sind.
Mitgliedschaften in der EU und in der NATO stehen zwar bei Poroschenko ideologisch auf der Tagesordnung, noch mehr bei den nationalistischen Kräften um den Ministerpräsidenten Arseni Jazenjuk, haben aber keine reale Perspektive. Für die EU wird die Ukraine zum Klotz am Bein. Für die NATO kann ein Beitritt zum Casus Belli mit Russland werden.
Nicht eine Anhebung des sozialen Standards auf das angestrebte Westniveau ist das Ergebnis der einjährigen Kämpfe, sondern die Senkung des Lebensstandards der Mehrheit der Bevölkerung. Hinzu kommt die unter dem Druck von EU und IWF betriebene Austeritätspolitik – letztlich in beiden Teilen des Landes.
Der Wunsch nach Ersetzung der oligarchischen Willkürherrschaft durch eine transparente Mehrheitsdemokratie nach EU-Standards hat die vorher bestehenden Strukturen ins Extrem getrieben – die Oligarchen, die sich zuvor noch einer demokratischen Scheinstruktur bedient hatten, sind nun selbst unmittelbar in die Machtpositionen gerückt.
Das Land ist nicht nur in zwei Teile gespalten, innerhalb der jeweiligen Seite bestimmen die Oligarchen heute willkürlicher als je zuvor das politische – und das militärische – Geschehen. Von Demokratie kann keine Rede sein, faktisch herrscht Kriegsrecht, auch wenn es offiziell nicht ausgerufen wurde.
Ungelöst bleiben grundsätzliche Fragen. Wie wollen die Menschen in der Ukraine in Zukunft leben? Mit Rückgriffen auf sowjetische Gesellschaftsmuster im Osten? Unter dem Modernisierungsdruck aus dem Westen? Oder getrennt voneinander in zwei auseinanderdriftenden Gesellschaftsformationen?
Wie soll die ukrainische Staatlichkeit aussehen? Was soll zukünftig ukrainische Identität sein? Ein nationalistischer Einheitsstaat, der seine Bürger mit Terror unter eine ukrainische Identität zwingt? Ein demokratisches Staatswesen, das seine Pluralität durch autonome und föderale Strukturen leben lässt?
Statt sich als souveräner Staat gefestigt zu haben, ist die Ukraine zum Feld eines Stellvertreterkriegs zwischen dem Westen, speziell den USA, und Russland geworden. Hart steht die Frage, wie die Ukraine – so oder so organisiert – zwischen Eurasischer Union und Europäischer Union, zwischen Ost und West leben kann, ohne in einem Entweder-Oder zerrissen zu werden?
All diese Frage sind selbstverständlich nicht allein von der Ukraine zu beantworten, sondern nur im Verbund mit den globalen Kräften. Ohne einen Übergang von der gegenwärtigen US-dominierten Hegemonialordnung zur Anerkennung der schon entstandenen kooperativen, multipolaren Weltordnung wird die Ukraine keine Ruhe finden können.