18. Jahrgang | Nummer 1 | 5. Januar 2015

Psychosoziale Wurzeln „rechter“ Bewegungen

von Andreas Peglau

Schon der Ausgang der Europawahl vom Mai 2014 und die Entwicklung in der Ukraine haben die Frage nach den Wurzeln von Bewegungen, die auf Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Autoritarismus abzielen, mit neuer Schärfe aufgeworfen. Das Phänomen Pegida erzwingt umso mehr, sich damit zu befassen. Ich will auf Erklärungsansätze hinweisen, die über die üblicherweise angeführten Faktoren hinausgehen und dringend in die laufenden Diskussionen einbezogen werden sollten.
Wilhelm Reich, damals noch KPD-Mitglied, untersuchte den Erfolg Hitlers 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus. Ganz zu Recht merkte er an, dass diese Entwicklung mit Marx nicht mehr zu erklären sei: Millionenfach verhielten sich Werktätige entgegen ihren „objektiven“ Klasseninteressen, indem sie „rechte“ Parteien wählten. Um dies zu verstehen, sei neben dem Bewusstsein auch das – von der Psychoanalyse erforschte – Unbewusste einzubeziehen. Dieses entstünde maßgeblich in der Kindheit durch gefühlsunterdrückende, autoritäre Erziehung. Kinder durchliefen erst „den autoritären Miniaturstaat der Familie, […] um später dem allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen einordnungsfähig zu sein.“ Je „hilfloser das Massenindividuum aufgrund seiner Erziehung“, desto intensiver werde der Wunsch nach einem autoritären Ersatzvater, mit dem es sich identifizieren sowie nach Feindbildern und Sündenböcken, gegen die sich der jahrelang aufgestaute Hass entladen könne. Und genau darauf beruhe ein gut Teil der Anziehungskraft, die Hitler und dessen Judenhass für viele hätten – über Klassengrenzen hinweg.
1941 formulierte Erich Fromm 1941 in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit ähnliche Thesen. „Hitlers Persönlichkeit, seine Lehren und das Nazi-System“ seien extreme Ausformungen des „autoritären“ Charakters, wodurch Hitler „jene Teile der Bevölkerung so stark ansprach, die – mehr oder weniger – die gleiche Charakterstruktur besaßen.“ Kein NS-System also ohne die ihm millionenfach entgegenkommenden seelischen Strukturen, keine Massenbewegung ohne massenhafte Basis in Bewusstsein und Unbewusstem der Individuen. Das gilt noch immer. Pegida ist nur die Spitze des Eisbergs.
Untersuchungen zu faschistoiden Einstellungen in der BRD, die eine Leipziger Forschungsgruppe um Oliver Decker und Elmar Brähler vornimmt, decken regelmäßig rechtsextreme Positionen bei Anhängern sämtlicher politischer Parteien auf. 2014 befürworteten zum Beispiel 2,1 Prozent der CDU/CSU-Wähler, 2,8 Prozent der SPD-Wähler und 2,9 Prozent Wähler der „Linken“ eine rechtsautoritäre Diktatur (Wähler „rechter“ Parteien: 26,1 Prozent). Bei der Ausländerfeindlichkeit lagen die Prozentsätze bei 17,1 (CDU/CSU), 17,9 (SPD), 16,9 („Die Linke“), 69,6 („rechte“ Parteien). Menschen mit „geschlossenem rechtsextremen Weltbild“ wählten zu 21,4 Prozent CDU/CSU, 24,6 Prozent SPD, 7,3 Prozent „Die Linke“, aber nur zu 6,3 Prozent klar „rechte“ Parteien, ebenfalls mit 6,3 Prozent die AfD.
2014 bekannten sich zwar in den Erhebungen der Leipziger Forschungsgruppe nur 5,6 Prozent der Befragten eindeutig zu einem „geschlossenen rechtsextremen Weltbild“, doch schon diese „nur“ 5,6 Prozent repräsentieren mindestens 3,56 Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und eine weit höhere Zahl vertrat einzelne fremdenfeindliche Positionen. So lehnten mehr als drei Viertel der BRD-Bürger „die Forderung ab, der Staat solle großzügig bei der Prüfung von Asylanträgen vorgehen“. Weniger als 50 Prozent aller Befragten gestanden Asylsuchenden zu, „wirkliche Verfolgung erlitten zu haben oder von ihr bedroht zu sein“. Knapp 40 Prozent pflichteten islamfeindlichen Aussagen bei, knapp 53 Prozent diffamierten Sinti und Roma – und das geht durch alle sozialen Schichten.
Diese Befragungen zeigen freilich auch: Nur ein kleinerer Teil derjenigen, die „rechte“ Positionen vertreten, ist rechtsextrem. Pauschalisierungen wie „Wer etwas gegen Ausländer sagt, ist ein Faschist“, sind also nicht zu rechtfertigen, auch nicht in Bezug auf Pegida. Da sich zudem mehr als 90 Prozent der Befragten zur „Idee der Demokratie“ bekannten, muss wohl geschlossen werden: Ein Großteil der Deutschen sind „fremdenfeindliche Demokraten“. Natürlich sind dies eigentlich miteinander unvereinbare Einstellungen. Solange man sich mit ihnen und ihren Konsequenzen nicht bewusst auseinandersetzt, können sie jedoch nebeneinander existieren. Die entscheidende Grenze verläuft also nicht zwischen Parteien oder Klassen, sondern zwischen Persönlichkeitsanteilen. Umwälzungen im Produktionsprozess und Besitzverteilung können schon daher keine nachhaltige Friedfertigkeit erzielen.
Eine weitere Einsicht Reichs und Fromms sollte allerdings hinzugenommen werden. Wie ein Volk sich verhalte, sei kein Zufall, schrieb Reich in der Massenpsychologie, denn „jede Gesellschaftsordnung“ erzeuge „in den Massen ihrer Mitglieder diejenigen [psychischen – A.P.] Strukturen […], die sie für ihre Hauptziele braucht.“ Erich Fromm formulierte diesbezüglich: „Die sozio-ökonomische Struktur einer Gesellschaft formt den Gesellschafts-Charakter ihrer Mitglieder dergestalt, dass sie tun wollen, was sie tun sollen.“
Doch für welche Ziele benötigt unsere gegenwärtige Sozialordnung diese Unzahl oberflächlicher, dumpfer oder resignierter Menschen mit ihren oftmals primitiven Wut- und Neidaffekten, die einem ja durchaus nicht nur montäglich aus Dresden entgegenstarren? Dass so geformte oder genauer gesagt: psychisch verformte Menschen keine gute Grundlage für Demokratie darstellen können, ist klar. Aber von einem durchweg demokratischen System kann ja in Bezug auf unseren Staat auch nicht die Rede sein.
Eine demokratische Erziehung und Bildung hat sich trotz der 68er-Bewegung nicht durchgesetzt, schon gar nicht eine demokratisch aufgebaute Wirtschaftssphäre: Das Arbeitsleben der meisten BRD-Bürger ist weiter streng autoritär geregelt. Gerade in letzter Zeit hat sich gezeigt, wie sehr sich der gesamte BRD-Staatsapparat autoritär unterordnet: unter Konzerne und Banken sowie unter das imperiale Streben der USA. Sich dem unterzuordnen beziehungsweise anzuschließen, verlangt, verbrecherischen Kriegshandlungen wie im Irak oder in Afghanistan zuzustimmen oder sich sogar daran zu beteiligen. Schon die Zustimmung setzt hier ein hohes Maß an Verdrängung oder Zynismus oder Untertanengeist voraus oder – psychoanalytisch formuliert – eine „Identifikation mit dem Aggressor“. Für die im Sinne der Auftraggeber erfolgreiche Beteiligung als Soldat sind zudem Gefühlsabspaltung und die Bereitschaft zu töten unerlässlich.
Im Sinne von Wilhelm Reich und Erich Fromm müssen wir daraus schließen: Unsere Gesellschaft hat ein Interesse an satten Kleinbürgern, dumpfen Mitläufern und an einem jederzeit auf möglichst beliebige Ziele ausrichtbaren Zerstörungspotential. Deshalb erzeugt sie massenhaft, nicht zuletzt per Erziehung und Medienmanipulation, die dazu passenden seelischen Störungen – und gefährdet so, was tatsächlich an demokratischen Errungenschaften aufgebaut wurde.
Es wäre daher naiv, Pegida oder Parteien wie die ukrainische „Swoboda“, die griechische Morgenröte oder die NPD als bloße Minderheiten zu sehen. Solche Gruppierungen repräsentieren tradierte psychosoziale Strukturen, die offen „rechten“ Parteigänger sind dabei nur „Symptomträger“ einer psychosozialen Störung, mit der längst auch andere, sich als liberaler oder gar „links“ Verstehende, „infiziert“ wurden. Ähnlich einer Seuche können diese Symptome, zum Beispiel infolge zunehmender Verarmung und steigender sozialer Unsicherheit – also exakt jener Entwicklung, die uns der Neoliberalismus gerade beschert – rasant um sich greifen. Die zuvor als kulturell recht hochstehend angesehenen Deutschen haben es in den 1930er Jahren vorgemacht.
Die zunächst sympathisch klingende Losung „Deutschland ist nicht Pegida“ führt also in die Irre. Deutschland ist auch, und in nicht geringem Maße, genau das: Pegida. Es wäre verantwortungslos, das zu ignorieren.

Laut einer Forsa-Umfrage vom Dezember 2014 finden 29 Prozent der Deutschen Pegida nachvollziehbar, 13 Prozent würden mitmachen… – Anmerkung der Redaktion

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