17. Jahrgang | Nummer 26 | 22. Dezember 2014

„Hungrig im Herzen bleiben“

Im Gespräch mit – Uwe Steimle

Wenn jemand dumm geboren wird,
da kann er nichts dafür.
Aber wenn er auch noch dumm stirbt,
dann muss er ganz schön blöde sein.
Uwe Steimle

Lieber Herr Steimle, wir halten es am besten so, wie Sie auf der Bühne: Der Beginn Ihres Auftritts steht quasi noch am Anfang, doch schon kommt volles Rohr aus schweren Kalibern.
Also – ohne Vorgeplänkel!
25 Jahre nach der, wie Sie den Vorgang konsequent nennen, Kehre, soll uns Willy Brandts Prophezeiung, dass nun zusammenwachse, was zusammengehöre, den Auftakt diktieren. Wie fällt – Brandt als Maßstab angelegt – die Bilanz des Kabarettisten Uwe Steimle aus?
Uwe Steimle: Willy Brandt war, wie ich mir erlesen habe, ein Ausnahmepolitiker, der über eine sehr seltene Gabe verfügte: die Höflichkeit des Herzens. Also die Fähigkeit, gesellschaftliche Prozesse nicht nur unter dem Aspekt der Machterringung und des Machterhalts oder nur mit kaltem Intellekt zu reflektieren, sondern auch vom Herzen her. Seine Formulierung vom Zusammenwachsen zeugt davon. Ich habe die übrigens immer als Wunsch Brandts verstanden, weniger als Prophezeiung oder gar als Imperativ. Und schön wäre es ja auch gewesen, aus dem Besten beider Seiten – Bildungssystem, frühkindliche Betreuung und Frauenemanzipation hier, Meinungs- und Reisefreiheit dort, um nur einige Beispiele zu nennen, – ein noch besseres Neues zusammenzufügen. Genau das ist aber leider nicht geschehen. Es erfolgte vielmehr der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes gemäß dessen Artikel 23 (so der Volkskammerbeschluss), und dieser Beitritt wurde dann de facto zu einer Einverleibung seitens der BRD.
Zugleich war der Zustand beider deutschen Gesellschaften 1990 nicht der beste, um es diplomatisch auszudrücken. Dass die Fassade im Westen noch glänzte, mag manchem den Blick dafür verstellt haben, dass auch die Bundesrepublik ein stagnierender Korpus mit mancherlei Schwächen war… Wenn aber, um ein Bild zu bemühen, ein Blinder und ein Lahmer sich „vereinigen“, was kann da schon herauskommen? Eine Blindschleiche. Eine große Chance jedenfalls, die Welt, und sei es zunächst nur die deutsche, etwas Menschlicher zu machen, wurde vertan.
Pardon, das Bild mit der Blindschleiche nehme ich zurück; es täte dem armen Reptil arg Unrecht!
Heute gibt es längst keine wirkungsvolle Gegenwehr gegen die Auswüchse unserer nun gemeinsamen Gesellschaft mehr – etwa gegen das zunehmende Wohlstandsgefälle; Geld und nackter Ökonomismus regieren durch. Das Individuum hat bestenfalls noch den Wert eines Rädchens im System; läuft der Einzelne ökonomisch nicht oder nicht mehr rund, dann wir er erbarmungslos aussortiert, bevor er überhaupt zum Sand im Getriebe werden kann.
Das mit dem Zusammenwachsen ist also leider eine fromme Vision geblieben. Wie die von Helmut Kohl angekündigten „blühenden Landschaften“ … ehrlich gemeint waren die möglicherweise auch.

Gehen wir noch etwas ins Detail. Woran konkret ist der Brandtsche Wunsch gescheitert?
Steimle: Vor 25 Jahren gab es in beiden deutschen Staaten keine Mehrheiten dafür, ein gesellschaftlich neues Ganzes als Ziel auch nur anzuvisieren.
Zwar gingen in der DDR insgesamt nur ein paar Hunderttausend auf die Straße und skandierten:
Kommt die D-Mark, bleiben wir,
Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!
Aber Millionen andere hielten die Hufe still. Es war das Gefühl für den Wert der DDR, für das Wertvolle in der DDR verloren gegangen. Dafür gehörte das Wissen darum, was für Westmark alles zu haben ist, in der DDR zur Allgemeinbildung. Ein zynischer Witz lautete später: „Was ist der Unterschied zwischen den Palästinensern und der DDR-Bevölkerung? Die Palästinenser kämpfen für ihren Staat.“
Auf der Gegenseite war die Bundesrepublik Deutschland aber auch kein eigenständiges Land, sondern eines von Washingtons Gnaden. Es galten noch Viermächterechte, und die Amerikaner hätten wohl kaum gestattet, dass sich ihr Hauptstützpunkt in Westeuropa aus der strikten Westbindung löst.
Und die herrschenden Kreise in Bonn sowie die westdeutsche Bevölkerung hatten keinerlei Interesse an gesellschaftlichen Veränderungen. Der bundesdeutsche Wohlstandsmief war zwar angekratzt, aber noch schön gemütlich. Denen konnte also gar nichts Besseres passieren als Beitritt nach Artikel 23, denn das bedeutete: Keine neue Verfassung für das neue Deutschland, keine vorgeschaltete gesellschaftliche Diskussion über deren Inhalte.
Es wurde ja dann auch kein neues, sondern nur ein noch etwas größeres Deutschland. Ohne Veränderungen im Westen. Die DDR hingegen wurde abgewickelt und niederkolonisiert. Nicht nur deren Eliten verschwanden von der Bühne, sondern auch viele von denen, die zuvor gerufen und wohl wirklich geglaubt hatten, „Wir sind ein Volk!“, wurden über Nacht arbeitslos. Pech für die Kuh Elsa.
Dadurch dass uns in den besetzten Gebieten in einer brutalen Rosskur ein kalter neoliberaler Kapitalismus übergestülpt wurde, blieb nicht zuletzt etwas auf der Strecke, was ich als Kitt für eine funktionierende Gesellschaft für unerlässlich halte: Mitmenschlichkeit, Solidarität – wo allein ist der Begriff geblieben? –, Herzensbildung im Umgang miteinander.
Heute ist sich ganz überwiegend jeder selbst der Nächste und fragt zuerst nach dem eigenen Vorteil, bevor er etwas fürs Gemeinwohl tut. Zynismus allenthalben, vor allem auch in der Politik und in den Medien. Zugleich ist vorauseilender Gehorsam ein so allgemeines Phänomen geworden, dass die DDR-Oberen sich gefreut hätten, wäre ihnen ein gleiches Maß beschieden gewesen. Die „westlichen Werte“ – eine Worthülse; wer die im Munde führt, wie unsere bürgerlichen Politiker, und als Hort derselben „Amerika“ preist – also jene USA, die den Irak zerstört und Libyen bombardiert haben, – der macht sich im besten Falle lächerlich und motiviert im schon schlimmeren Falle vielleicht junge Menschen, ihr Heil beim Islamischen Staat zu suchen. Die einzigen „Werte“, die sich seitens der politischen Klasse sowie bei Managern und Medien und Teilen der Gesellschaft noch sabbernder Anbetung erfreuen, sind – das Geld und „die Märkte“. Aber wer sind die Märkte? Name und Adresse, bitte! Dort müssen wir hin, denn die haben unser Geld.
Manche nennen die vorherrschende Form des Gemeinwesens im Westen eine Wolfsgesellschaft. Aber das ist schon wieder ein falsches Bild: Wölfe in ihrem Rudel sind höchst soziale Wesen.
Ich kann diejenigen verstehen, die sagen: Dieses System sollte uns besser heute als morgen um die Ohren fliegen, damit endlich etwas Besseres kommt.

Hat Brandts Wunsch vom Zusammenwachsen überhaupt noch eine Chance?
Steimle: Ich mag die Hoffnung ja nicht aufgeben, bin aber realistisch genug, um zu befürchten – vorderhand wächst auch weiter nichts zusammen. Weil immer noch – und ich habe das Gefühl: immer mehr – so wesentliche Mindestvoraussetzungen dafür fehlen wie das Bemühen ums gegenseitige Verstehen. Ich war am 3. November, unter anderem zusammen mit Matthias Platzeck, in der ARD, bei „Hart aber fair“, und musste einmal mehr feststellen, dass Menschen, die – ob aus ahistorischer Selbstgerechtigkeit (meist Westdeutsche) oder persönlicher Betroffenheit, für die ich Verständnis habe, – die Diktatur in der DDR in eine Linie stellen mit der des Dritten Reiches, gar nichts anderes gelten lassen als ihre eigenen Urteile und Vorurteile und überhaupt nichts wissen wollen, was ihrem Weltbild widerspricht. Man darf sich gar nicht vorstellen, was der Menschheit hätte passieren können, wenn Gorbatschow im Prozess des Zusammenbruchs der Sowjetunion eine solche Denke eigen gewesen wäre…
Die zieht sich in Deutschland heute meinungsführend durch – mit einem Koordinatensystem, in dem nur die einen immer recht haben und uns überdies gebetsmühlenartig, täglich, erklären, wie wir gelebt wurden. Und die anderen haben gefälligst demütig das Haupt zu beugen oder besser gleich in Sack und Asche zu gehen. Das ist gesellschaftspolitische Apartheid, die die ganze ostelbische Bevölkerung stigmatisiert. Was soll da zusammenwachsen?
Die DDR hat – über andere Unterschiede zum Dritten Reich will ich gar nicht reden – keine Leichenberge hinterlassen. Das ist Fakt. Und Fakt ist auch: Sie hatte eine Reihe von sozialen und kulturellen Vorzügen, die nicht auf den Kehrichthaufen der Vereinigung gehört hätten. Manches davon wird ja gerade mühselig wiederhergestellt – natürlich ohne Bezug zur DDR. Gottseidank gibt es ja Beispiele wie Norwegen und Dänemark. Die sich schon vor Jahrzehnten ohne ideologische Scheuklappen manches vom Bildungs- und Erziehungssystem der DDR abgeschaut hatten …
Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch – ich glaube auch nach 25 Jahren deutscher Einheit keineswegs, dass wir das „Ende der Geschichte“ erreicht haben. Denn was ganz schnell daraus entstehen kann, wenn die Verhältnisse für große Bevölkerungsgruppen zu prekär werden, das haben wir ja in Frankreich, Spanien und Griechenland schon erlebt …

Sie sehen den „kommenden Aufstand“ heraufziehen? Wenn man an 1789 oder 1917 denkt, möchte man da ja nicht unbedingt dabei sein oder unmittelbar danach versuchen müssen, sein Leben zu leben oder gar Kinder groß zu ziehen …
Steimle: Die Gegenwart hat erst jüngst die von mir genannten Beispiele geliefert. Deswegen weise ich menetekelnd auf die Möglichkeit der Wiederholung hin. Ich meinerseits verabscheue Gewalt in jeder Form und bevorzuge evolutionäre Veränderungen, privat wie gesellschaftlich. Gerade dafür stehen ja auch die DDR und die anderen osteuropäischen Staaten mit dem Epocheumschwung von 1989/90. Darauf ruht meine Hoffnung – im Schillerschen Sinne:
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.

Vom MDR wurde Ihnen die Idee für einen Spielfilm abgelehnt, der davon handeln sollte, was an Schicksalen auch zur Geschichte der massenhaften Flucht aus der DDR im Jahre 1989 – vor dem Fall der Mauer – gehörte: Das häufige Zurücklassen von Eltern, Partnern und vor allem Kindern. Die Ablehnung der MDR-Oberen wurde mit der fragenden Feststellung garniert: „Sie werden wohl nie mit Ihrer DDR fertig?!“ Nach Ihren ersten Antworten hier drängt sich Frage noch zugespitzter auf: Hätten Sie die DDR lieber behalten?
Steimle: Ja, ja, ja. Mir fehlt meine DDR, und zwar jeden Tag ein Stückchen mehr! Dabei bin ich zum bekennenden DDR-Bürger erst in der und durch die BRD geworden. Vorher war ich durchaus auch kritisch. Einer Mitarbeit bei den „Organen“ habe ich mich entzogen …
Aber seit 25 Jahren wird die DDR im offiziellen Sprachgebrauch als Unrechtsstaat bezeichnet. Und das lasse ich mir nicht gern aus einer Himmelrichtung sagen, in der man sich jahrzehntelang nicht im Stande sah, ja weigerte, das Vernichtungssystem der Nazis auch nur vergleichbar zu qualifizieren. Trotzdem konzedierte ich: Vielleicht war die DDR auch ein Unrechtsstaat, aber dann war sie einer, in dem es sehr viel Gerechtigkeit gab. Heute leben wir dafür in einem Rechtsstaat, der voller Ungerechtigkeiten ist. Oder anders ausgedrückt: In der DDR wurde sich um die Menschen gekümmert, und die Häuser verfielen…
Kritiker nennen mich ob solcher Sprüche gern einen „ewig Gestrigen“, der ich nicht bin. Nur ich kann im Unterschied vor allem zu den westdeutschen unter meinen Kritikern beide Systeme vergleichen – aus eigener Anschauung und Erfahrung. Und das werde ich auch weiter tun.
Im Übrigen: Dass ich nicht einer bin, der sagt, früher war’s schöner – und noch früher war’s noch schöner, das kann beurteilen, wer meine Vorstellungen besucht oder meine Bücher liest.

Frau Illner im ZDF subsummierte sich schon mal mit unter „wir Westdeutschen“. Assimilation erleichtert das Leben, zumindest das berufliche, und umso mehr, wenn es sich um ein mediales handelt – wie man auch an Ihrem Beispiel anschaulich verdeutlichen kann: Filmangebote für den DDR-lastigen Querulanten Steimle zum Beispiel lassen seit längerem auf sich warten …
Steimle: Das ist so, aber das darf man nicht so wichtig nehmen. Weil: Verbitterung vergällt einem das Leben und beschwert das Herz. Das versuche ich zu vermeiden, und da ich Dresdner bin, gelingt mir das. Wenn Sie den Namen dieser wunderbaren Stadt nur ein wenig sächsisch vernuscheln, dann kommt etwas heraus, was Hochdeutsch „trösten“ heißt.
Im Übrigen kann keiner gegen seine Natur. Schon zu DDR-Zeiten, das konnte ich gegen Ende meiner Kaderakte entnehmen, galt ich als schwierig. Damit hadere ich nicht – im Gegenteil: „Lieber schwierig als schmierig!“ Das erleichtert den morgendlichen Blick in den Spiegel ungemein, und darauf lege ich Wert.
Bei den Öffentlich Rechtlichen, hat mir mal einer erzählt, schwanken die Strafzeiten bei Verbannung vom Bildschirm zwischen einem und sieben Jahren, je nach Schwere des Falles. Die letztere Frist ist bei mir gerade rum, und am 3. Dezember war „Sushi in Suhl“ zur besten Fernsehzeit in der ARD zu sehen. Also schauen wir mal, wie es weitergeht.
Und nicht zuletzt: In der DDR konnte man für Nichtigkeiten nach Bautzen abwandern. Dagegen sind meine Probleme doch nun wirklich Peanuts.
[Nach kurzer Pause:] Das war jetzt aber, wenn ich das hinzufügen darf, auch ein sehr schönes Beispiel dafür, dass ich durchaus in der Lage bin, das Gute in der BRD zu würdigen – oder?
[Nach abermaliger kurzer Pause:] Wird Das Blättchen eigentlich auch bei der ARD gelesen?

Eines Ihrer ständigen Themen ist die „gelebte Demokratie“ hierzulande, ein Begriffspaar, bei dessen Gebrauch Sie häufig vom Sächsischen ins betont Hochdeutsche wechseln. Früher hatten wir „sozialistische Demokratie“, aber praktisch keine Wahl. Was missfällt Ihnen heute?
Steimle: Dass wir in einer inszenierten Mediendemokratie leben, in der jeder alles sagen kann. Aber nichts ändert sich. Böse Zungen behaupten ja, schrankenloser Pluralismus und Meinungsfreiheit dienten vor allem dazu, dass sich nichts ändert.
Ein gesellschaftlicher Disput darüber, wie wir diese Gesellschaft weiterentwickeln wollen, findet hingegen gar nicht statt.
Parallel dazu macht uns der pausenlose Dauerbeschuss mit Medieninhalten und Werbung handlungsunfähig. Was Menschen im Mittelalter in einem Jahr zu rezipieren hatten, das prasselt heute in Stunden auf uns nieder. Nicht dass es dabei keine wichtigen Informationen gäbe, aber die gehen unter in der Flut des Nebensächlichen, Banalen, Flachen. Da findet viel Verblödung am offenen Hirn statt. Vor dieser Flut kapituliert das Denken, es hört einfach auf. Wer da keinen gefestigten Klassenstandpunkt hat, der verliert ganz schnell die Orientierung. „Klassenstandpunkt“ meint hier nicht SED-Ideologie sondern ein eigenes Fundament von Werten und ethischen wie politischen Grundsätzen, an dem die Flut sich bricht, das es dem Einzelnen ermöglicht, den wenigen Weizen von einem Tsunami an Spreu zu trennen. Dieses Fundament kann „links“ sein. Das wirft aber gleich die nächste Frage auf: Was ist „links“? Ich bevorzuge eine einfache Definition – links ist, wo das Herz sitzt. Oder: Wer gegen Ungerechtigkeit handelt, der ist links.

In einem Interview mit der taz vor der jüngsten Landtagswahl in Sachsen im August zitierten Sie Tucholsky: „Wenn Wahlen etwas ändern würden, dann wären sie verboten.“ Ein Plädoyer fürs Nichtwählen wollten Sie damit allerdings ausdrücklich nicht abgegeben haben – im Gegenteil: Sie forderten zugleich Wahlpflicht wie in Belgien. Das kann doch aber eigentlich nur Kabarett gewesen sein, denn wenn Wahlen nichts ändern, wäre Wahlpflicht doch nur der Zwang für den Wähler, sich immer wieder selbst zu verarschen …
Steimle: Man muss natürlich die Richtigen wählen.

Wer sind die?
Steimle: Die Richtigen sind immer die, die nicht nur sich meinen, sondern auch die anderen. Und die das nicht nur sagen, sondern auch so handeln. In der Bildungspolitik, in der Gesundheitspolitik, in allen gesellschaftlich relevanten Bereichen.

Im selben Interview sagten Sie auch: „Ich wünsche mir mehr Volksentscheide […].“
Wirklich? Direkte Demokratie hat doch den gebildeten, interessierten, engagierten und verantwortungsbewussten Citoyen zur Voraussetzung – und zwar nicht als Ausnahmeerscheinung. Genau diese Art von Citoyen flächendeckend zu verhindern, treten hierzulande aber täglich Printmedien mit Millionenauflagen an. Unterschichten-TV lullt Hartz-IV-Empfänger in ähnlichen Größenordnungen ein. Und selbst bei
ARD und ZDF reihern Sie in die ersten Sitze, und zwar weniger wegen grassierender Trivialserien oder wegen „Volksmusik“ als wegen des dürftigen Maßes und des vorherrschenden Niveaus der politischen Berichterstattung. Hätten Sie in diesem Ambiente nicht eher Angst, dem „gesunden Volksempfinden“ Fragen wie „Todesstrafe oder nicht?“ zur Entscheidung zu stellen?
Steimle: Was bei der Frage „Todesstrafe für Kinderschänder?“ herauskäme, daran habe ich nicht die geringsten Zweifel. Das macht mir durchaus Angst. Aber wenn die Alternative darin besteht, dass sich ohne mehr direkte Demokratie überhaupt nichts ändert, bevor der Kessel irgendwann explodiert, dann bin ich bereit, das Risiko einzugehen und Chancen zu suchen, vielleicht doch notwendige gesellschaftliche Korrekturen und Veränderungen zu erreichen. Ich hätte nämlich auch keinen Zweifel daran, welche Mehrheit es bei der Frage gäbe: „Sollen alle Vermögen und Einkommen oberhalb einer Million mit 90 Prozent besteuert werden?“
Bisher sind Volksabstimmungen im Übrigen ja nur Placebos. Dort wo sie in der Bundesrepublik überhaupt gesetzlich verankert sind, sind sie für die Politik in der Regel nicht bindend. Mehr verklapsen kann man den Souverän doch eigentlich nicht.

Dass unsere Bundeskanzlerin einen langweiligen, verwaltenden Politikstil pflegt und sich ohne Vision und Programmatik an der Macht hält, ist allgemein bekannt und wird ihr ja in einschlägigen Medien immer wieder vorgehalten. Ohne erkennbaren Schaden für ihre Popularität im Volke.
Ihnen verdanken wir die Erkenntnis, dass die frühere FDJ-Funktionärin auch über ein gerüttelt Maß an schlitzohriger Perfidie verfügt: Erst schob sie ihren letzten CDU-Konkurrenten ums Kanzleramt ins Schloss Bellevue ab, und dann ließ sie die Wahl von Christian Wulff auch noch auf einen 30. Juni terminieren und gab dem Auserwählten damit einen Wink – sein weiteres Schicksal betreffend. Nur dass Wulff als Wessi keinerlei Chance hatte, dieses Zeichen der Zeit zu begreifen. Der 30. Juni – Sie, Herr Steimle, haben es ans Licht gebracht – ist: Ulbrichts Geburtstag!
Geschadet hat der Kanzlerin aber auch dieser Streich nicht. Ebenso wenig wie schon die üppigen Fotos von der Operneröffnung in Oslo – mit einem Dekolleté, wie man es bis dahin vor allem aus Russ-Meyer-Filmen kannte. Gegen Angela Merkel scheint kein Kraut gewachsen …
Steimle: Das scheint derzeit so. Mich interessiert aber vielmehr, ohne ein Freund der Dame zu sein, wie oft sie eigentlich in ihrer Persönlichkeit gespalten sein muss. Mit ihrer Sozialisierung: Thälmann-Pionier, Russisch-Olympiade, FDJ-Job und womöglich, wegen Westfernsehen zu Hause, ständig mit gespaltenem Kopf denken müssen, um mit gespaltener Zunge reden zu können, und dann ab 1990 diese Biographie einkapseln und das Ganze wieder auf Anfang – an der Seite von Helmut Kohl und seinen Satrapen. Also wieder mit gespaltenem Kopf …, um mit gespaltener Zunge… In Amerika sagte sie vor dem Kongress in Washington folgende Worte: „Meine ersten Jeans waren für mich der Weg in die Freiheit […] Es lebe die unverbrüchliche Freundschaft zur […].“ Da fiel ihr ein: „Mein Gott, ich stehe ja gar nicht in Moskau.“ Und jüngst auf dem SED-, Verzeihung!, CDU-Parteitag in Köln sinngemäß: „Wir haben einen Auftrag, und das ist unser Mut zur Chance. Also nutzen wir die Chance zum Mut!“ Und Köln raste.
Das muss ihr erst mal einer nachmachen. Vor der Kritik an Angela Merkel kommt deshalb bei mir: Den Hut vor ihr zu ziehen.

In der DDR hatte politisches Kabarett, und man sprach hinter vorgehaltener Hand ganz offen darüber, eine Ventilfunktion: Der Dampf, der sich im Alltag in den Leuten aufstaute, nahm auf der Bühne (in Maßen kritische) Gestalt und Stimme an; Lachen löst Verspannungen; man kehrte irgendwie teiltherapiert in den Alltag zurück – und alles ging weiter seinen sozialistischen Gang. Der klügere Teil der Obrigkeit hatte den dieserart durchaus systemkonsolidierenden Wert solcherart Veranstaltungen erkannt: Kabarettgründungen wurden häufig gefördert …
In bürgerlichen Gesellschaften, wiewohl die Systemkritik hier maßlos sein darf, entfaltet politisches Kabarett auch keine erkennbar größere Wirkung. Schon Kurt Tucholsky litt unter dem von ihm so empfunden Widerspruch, zwar erfolgreich zu sein, aber wirkungslos. Ihr Innungskollege Georg Schramm stand in seinem vorletzten Programm „Thomas Bernhardt hätte geschossen“ als Lothar Dombrowski mit einem Enfield-Revolver auf der Bühne, um das Ausmaß seines Leidens an den Verhältnissen und seine Radikalisierung bei der Wahl der Waffen zu verdeutlichen. Das Publikum klatschte frenetisch, aber das war’s dann auch. Solcher Auftritt ließ sich nicht mehr toppen. Für Schramm einer der Gründe, weitgehend aufzuhören. Welche Wirkung erhoffen Sie sich?
Steimle: Ein Beispiel. Hätten Sie Anfang des Jahres gedacht, dass eine kleine Partei wie die Hiddenseepartei. achtsame Demokraten aus dem Stand 67 Prozent holt und die CDU mit 2,9 Prozent in die Unaussprechlichkeit versenkt? Das war bei der Kommunalwahl im Mai.
Davon haben Sie noch gar nichts gehört? Da sind wir ja schon wieder bei der „gelebten Demokratie“: Vielleicht sollten wir das nächste Mal über die Medien hierzulande sprechen, die leider ganz überwiegend Teil des Problems sind.
Ich meinerseits arbeite nach dem Prinzip „steter Tropfen“. Das dauert. Aber bei mir zu Hause, im Elbsandsteingebirge, können Sie auf höchst beeindruckende Weise sehen, was „steter Tropfen“ anzurichten vermag.

Im Folgenden ein paar Aussagen von Ihnen – mit der Bitte, diese zu erläutern.
„Zeit ist Gnade.“
Steimle: Das ist mein persönlicher Gegenentwurf zu „Zeit ist Geld“. Das Leben ist viel zu schön – Menschen, Natur, Kunst, Literatur, Reisen –, um zu viel Zeit mit dem Mammon oder der Jagd danach zu vergeuden. Ich arbeite gern, auch gern für Geld, weil der Zugang zu manchen schönen Seiten des Lebens in unserer Gesellschaft ohne verschlossen bleibt. Ich stelle mir allerdings immer mal wieder die Frage nach der Grenze, jenseits der vom eigentlichen Leben zu viel auf der Strecke bleibt … Ich will mir Zeit nehmen können, für Dinge, die mir wichtig sind – auch für so ein Gespräch hier.

„Beim Kabarett landet man im Endeffekt immer beim Geschichten Erzählen gegen Ungerechtigkeit.“
Steimle: Das ist mein Antrieb.

„Pulmotin.“
Steimle: Ein Anker in der Welt! Wenn der Begriff in meinem Programm fällt, dann sehe im Saal, wo die Einheimischen sitzen. So ab 35 aufwärts. Allein der Geruch und das Gefühl eines Pulmotinwickels – das sind prägende Kindheitserlebnisse, die können einem selbst 25 Jahre Spätkapitalismus nicht nehmen.

„Ein kluger Mann klopft nicht gegen Rost. Er lebt damit.“
Steimle: Ist nicht von mir, dieses Bonmot. Könnte aber aus der Abteilung für Agitation und Propaganda im ZK der SED stammen, denn die Absicht lugt doch durch jedes Knopfloch – die Menschen sollen ruhig gestellt werden. Wer etwas verändern will, der muss den Rost traktieren, dass es nur so scheppert! Das entspricht auch eher meinem Naturell.

„Es war auch nicht alles nur gut in der DDR.“
Steimle: Richtig. Aber ich muss mich ergänzen: Wir waren die Guten!
Im Übrigen sollte man das ganz dialektisch sehen. Meine Eltern zum Beispiel – ich hatte eine liebevolle, behütete Kindheit – hatten häufig wenig Zeit, sich um mich zu kümmern, denn sie waren mit dem Aufbau des Sozialismus beschäftigt. Ich hab‘ also Schwein gehabt: Ich hatte regelmäßig Langeweile und konnte andererseits tun, was ich wollte. Stundenlang lesen zum Beispiel. Beides trainiert das Gehirn, denn richtig gut arbeitet das nur in Schüben: Bildung funktioniert über Pausen, nicht mit dem Nürnberger Trichter. Faulsein ist ganz wichtig! Manchmal habe ich den Eindruck, die Heimat des Deutschen ist die Arbeit.

Wir haben aus großen Kalibern begonnen und wollen mit ebensolchen aufs Ende – unseres Gesprächs – zusteuern. Die Menschheit lernt ja offensichtlich nicht dazu und die Phalanx der aktuellen politischen Entscheidungsträger aus den Fehlern vorangegangener Generationen schon gar nicht. Der gegenwärtige Rückfall im Verhältnis zwischen dem Westen und Russland in Zustände, die dem Kalten Krieg ähnlich sind, führt diese Geschichtsvergessenheit mal wieder schauerlich vor Augen.
Daran ist vor fast 100 Jahren schon Karl Kraus verzweifelt. Der ließ sein Stück „Die letzten Tage der Menschheit“ dann damit enden, dass die höheren Sphären die Nase voll hatten vom Zustand auf dem Globus und das Licht ausknipsten. Die letzten Worte des Stückes lauten bekanntlich:

Stimme von oben
Der Sturm gelang. Die Nacht war wild.
Zerstört ist Gottes Ebenbild!
Großes Schweigen
Die Stimme Gottes
Ich habe es nicht gewollt.

Wie sehen Sie die Perspektive des ganz großen Ganzen?
Steimle: Ich weiß nicht mehr, wo ich den Satz aufgeschnappt habe: „Wäre die Erde eine Bank, sie wäre längst gerettet.“
Aber im Ernst: Seit geraumer Zeit stolpern wir im Westen von einer Katastrophe in die nächste, ohne eine Vorstellung davon, wo wir eigentlich hinwollen. Ich bin trotzdem nicht unoptimistisch, weil der vermeintliche Sieger der Geschichte, der Kapitalismus, dadurch dass man ihn nach dem Zusammenbruch des Ostens noch mehr entfesselte, zeigen konnte, was er drauf hat: Die Menschheit an den Rand des – mindestens wirtschaftlichen – Abgrunds zu führen, und, wenn man ihn ließe, darüber hinaus. Auf „ewig“ ungezügeltes Wachstum würde uns früher oder später an denselben Punkt bringen. Denn was ist ungezügeltes Wachstum? Krebs! Und nicht zuletzt – Gesellschaften, in denen die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinanderklafft und immer mehr Menschen in Angst davor leben, wie sie den nächsten Tag bestreiten sollen, können auf Dauer nicht funktionieren. Davon ausgehend hoffe ich, dass sich künftig eine Mischung von Markt- und Planwirtschaft herausbilden wird, die den Kapitalismus zu unser aller und, wenn Sie so wollen, auch zu seinem eigenen Wohl an die Leine legt, wo immer Existenzielles berührt ist, und die eine Einkommens- und Reichtumsverteilung ermöglicht, die gerechter ist als die gegenwärtige. Wie das dann heißt, ist mir Wurscht. Ich hänge nicht an Begriffen …
Eine Illusion? Zwischen 1945 und 1970 hat so etwas in Gestalt sozialer Marktwirtschaft mit nahezu Vollbeschäftigung und stetig steigenden Einkommen auch für abhängig Beschäftigte schon mal ganz ansehnlich geklappt. OK, damals mussten sie, weil es uns im Osten gab. Doch wenn man auf Vernunft überhaupt nichts mehr gäbe …
Vielleicht aber kommt es ja auch völlig anders. Richtig schlimm. Die Verwestlichung der Welt könnte uns durchaus das Genick brechen, bevor sich genügend Umkehrpotenzial angesammelt hat und zur Wirkung kommt.
Ganz persönlich würde ich trotzdem immer wieder ein Apfelbäumchen pflanzen. Und dazu rate ich auch meinen Zeitgenossen von der Bühne herab, denn „sich an die Probleme ranquatschen“, wie wir das hier getan haben, ist einerseits zwar unerlässlich, andererseits aber eben nur das eine. Das eigene Handeln muss dazukommen. Immer wieder. Wer dafür weiteren Zuspruch braucht – vielleicht hilft ein weiterer Dresdner, Erich Kästner:
Es gibt nichts Gutes,
Außer: Man tut es.

Und Ihre Prognose für die ganz nahe Zukunft?
Steimle: In spätesten zwei Jahren kommt es zum Vereinigungsparteitag zwischen CDU und SPD. Und wie nennen wir die Partei? Ganz klar: Kapitalistische Einheitspartei Deutschlands – mit Angela Gabriel an der Spitze.

Bitte gestatten Sie eine letzte, eher persönliche Frage! Ich habe mir in Vorbereitung auf dieses Gespräch „Das Konto“, Marko Imbodens Fernseh-Thriller aus dem Jahre 2004, angesehen. Da reüssieren Sie in einer Rolle, mit der, ich gestehe es frank und frei, Sie zu assoziieren ich zuvor nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre – als ziemlich emotionsloser Auftragskiller. Und ich muss sagen: Auch als Vincent Vega („Pulp Fiction“) oder Walter White („Breaking Bad“) hätten ich Sie mir danach sehr gut vorstellen können. Von Dresden nach Hollywood – träumen Sie davon manchmal?
Steimle: Nu selbstverständlich. Welcher gute Schauspieler täte das nicht? Und hungrig im Herzen bleiben, bewahrt einen davor, saturiert in die Kissen zu sinken und sich nicht mehr zu entwickeln. Das wäre Tod auf Raten schon zu Lebzeiten.
Dass von Hollywood nischt kommt, frustriert mich aber nicht. Hollywood entgeht was! Und ganz nebenbei: Es hat auch Vorteile, nicht so „im Fokus“ zu stehen. Man kann versonnen in der Nase bohren, ohne dass die Fotos fünf Minuten später gleich im Internet kursieren.

Das Gespräch führte Wolfgang Schwarz am 7. November 2014.