17. Jahrgang | Nummer 3 | 3. Februar 2014

Demokratie und kritische Kunst in barocker Hülle

von Gerd-Rüdiger Hoffmann

„Ceci n’est pas un chateau“ ist in goldenen Lettern am neuen brandenburgischen Landtagsgebäude zu lesen. Ja, das ist kein Schloss, dieses Schlossgebäude ist das Bild von einem Schloss. Im Inneren soll Demokratie befördert und verwaltet werden. Der Kontrast zwischen dem barocken Außen, so wie von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff unter Friedrich II. Mitte des 18. Jahrhunderts in Zeiten der Monarchie gewollt, und sachlich-kühlem Innen, das nur durch Menschen in den Gängen, Büros und Sitzungsräumen belebt werden kann, darf als aufklärerische Ironie mit leichtem Hang zum subversiv-dialektischen Witz verstanden werden.
Die ausgezeichnete Idee der Potsdamer Künstlerin Annette Paul, diesen Schriftzug am Westflügel des Schlosses anzubringen, weist darauf hin, dass es sich wohl doch um das Landtagsgebäude handeln könnte. In einem seltsamen Gegensatz dazu steht, dass Medien immer wieder versuchen, die suggestive Frage „Was hätte wohl der Alte Fritz dazu gesagt?“ uns als bedeutsam einzureden. Und es funktioniert. Wer hat sich nicht alles mit dem Bild vom Alten Fritz in Gestalt eines bei der Eröffnung des Landtages herumlaufenden Schauspielers fotografieren lassen. Doch dann war es nicht nur ein Bild des Alten Fritz, sondern ein Schauspieler, der Auskunft gab, wie begeistert er von der historischen Fassade wäre und endlos glücklich sein werde, wenn dann auch noch die Garnisonskirche wiederhergestellt sei.
Kommt wirklich niemand auf den Gedanken, dass der Alte Fritz hätte schießen lassen, wenn 1989 in seine Amtsperiode gefallen wäre? Demokratie muss auf eigener Symbolik bestehen, ohne in Bilderstürmerei zu verfallen. Konsequent weitergeführt ist dieser Gedanke vom sächsischen Architekten Peter Kulka, indem er eben nicht mit nostalgischem Traditionsbewusstsein einen Roter Adler im Plenarsaal an der Stirnseite angebracht hat, sondern auf weißem Grund dezent einen weißen. Jedem Hang, Symbole der bloßen Macht auszustellen, ist damit eine Absage erteilt. Das brandenburgische Wappentier ist noch da, wie Geschichte trotz durch aktuelle Bedürfnisse wechselnder Wertungen eben auch präsent bleibt. Aber der Adler als Symbol für Könige, Tyrannen und andere Herrscher seit dem Altertum ist zumindest kritisch befragt worden. In seiner Rede zur offiziellen Eröffnung des Landtagsgebäudes bekannte Kulka freimütig, dass er noch lieber als den weißen Adler Picassos Friedenstaube im Sitzungssaal untergebracht hätte. Sehr sympathisch ist die zu ahnende Abneigung des Architekten gegenüber Heraldistik und Ritterspielen. Gipfel dieser feingeistigen Ironie ist, dass sich unter dem weißen Adler auf weißem Grund das grüne Schild für „Notausgang“ befindet. Als Design für machtpolitisch wichtige Veranstaltungen wie Neujahrsempfänge, Parteitage oder Preisverleihungen völlig ungeeignet, würde jeder für das Botschaftsmanagement von Parteien Verantwortliche sagen. Können dann jedoch das Kunstwerk von Annette Paul und die Innengestaltung von Peter Kulka einem Landtag zugemutet werden? Aber ja. Das muss zwar nicht sein, doch es ist gut, dass es so sein darf. Im konkreten Fall ist es sogar gut, dass es so ist. Demokratisch legitimierte Macht hält das aus, es sei denn, sie ist nicht stabil und sieht sich gezwungen, daran zu arbeiten, dass der Schein das wirkliche Sein dominiert. Wir kennen das aus den letzten Jahren der DDR, als nichts mehr richtig lief, die Plakate hingegen bunter und die Feste immer größer wurden.
Soweit, und eventuell so gut. Nun meldeten einige Zeitungen anlässlich der Eröffnung des neuen Potsdamer Landtagsgebäudes „Hitler-Bild im Landtag“ oder auch – wenigstens doppeldeutig – „Hitler hängt weiter“. Es geht um eine von Brigitte Rieger-Jähner, Direktorin des Museums Junge Kunst Frankfurt/Oder, kuratierte Ausstellung „Gegen- und Nachbilder“ mit Arbeiten des Künstlers Lutz Friedel. Brigitte Rieger-Jähner hat erst kürzlich mit einem klugen Vortrag anlässlich der Eröffnung der Ausstellung „‚Entartete Kunst‘ – Angriff auf die Moderne“ in ihrem Museum einige der Anwesenden überfordert, weil sie sehr differenzierend jede Schwarz-Weiß-Malerei vermied, indem sie zum Beispiel darauf einging, dass Emil Nolde eben nicht bloß von den Nazis als „entarteter Künstler“ verfemt wurde, sondern seinerseits Hitler verehrte, nicht frei von Antisemitismus war und gern zur „Bewegung“ dazu gehört hätte.
Lutz Friedel hat nun 122 von seinen über 300 übermalten Plakaten zu Ausstellungen seiner Holzskulpturen für den Landtag ausgewählt, in denen er sich unter dem Motto „Ich selbst als …“ mit Persönlichkeiten und damit mit Geschichte auseinandersetzt, die ihn beeinflusst, berührt, geärgert oder in schmerzhafter Weise abgeschreckt oder auch inspiriert haben. Schließlich sagt der Künstler selbst, dass er sich damit beschäftigen möchte, was in ihm und in jedem anderen Menschen steckt. Dass dann nur Gutes oder nur Böses zu entdecken wäre, mögen sich einige Menschen und besonders Politikerinnen und Politiker einreden wollen. Das Leben ist dann doch anders, komplizierter eben. Muss das Komplizierte allerdings in einer Ausstellung eines hohen Hauses der Demokratie gezeigt werden? Hat denn nicht ein Landtagsgebäude vor allem repräsentative Aufgaben zu erfüllen? Wäre es nicht angemessener, dann auch Repräsentatives zu zeigen? Das wäre selbstverständlich möglich gewesen. Auch brandenburgische Landschaftsbilder oder selbst eine Ahnengalerie können Kunst sein. Schwieriger wäre es, wenn die Kunstkommission des Landtages dem Künstler gesagt hätte, was er malen sollte, damit es politisch passt, welche historischen Personen zum Beispiel er doch malen sollte. Honecker und Mielke würden fehlen und, wenn schon schlimme Typen, dann hätte sich Friedel auch als die 19 IM der ersten Legislaturperiode, einschließlich Stolpe, malen können. So jedenfalls lautet der hoffentlich nicht ernst gemeinte Vorschlag eines der Experten, der sich belehrend und dann doch wieder mit diesem Einerseits und Andererseits äußern durfte.
Die Kunstkommission hat sich mutig für kritische Kunst, rote Fußböden und rote Sitze vor nüchternem Weiß entschieden. Diskussion ist dadurch reichlich zustande gekommen. Für eine Kunstausstellung und einen Landtag als Ort kulturvoll ausgetragener kontroverser Meinungen ist das kein schlechtes Zeugnis. Doch Presseerklärungen und Schlagzeilen haben auch das Zeug, die Macht des Faktischen zu erreichen. Es sei unerträglich, dass gegenüber dem Plenarsaal ein Hitler-Porträt hänge, hieß es. Gar ein Stalin-Bild werde ausgestellt. „Die CDU-Fraktion lehnt es ab, Bilder von Diktatoren und Verbrechern im Landtag auszustellen“, sagt der Abgeordnete Ingo Senftleben. Verständlich also, wenn Opferverbände, Zentralrat der Juden und einige Politiker aller Parteien aufgrund dieser Verlautbarungen verunsichert sind oder sich gar distanzieren. BILD kämpft und denunziert die Mitglieder der Kunstkommission des Landtages mit der Schlagzeile: „Diese Frauen haben Hitler in den Landtag geholt“. Was soll man dazu sagen, wenn es sich bei dem einen genannten Bild um das mit dem Titel „Ich selbst als Helge Schneider als Hitler“ handelt?
Es ist bekannt, dass viele Menschen nach Harmonie streben, keine Probleme haben wollen. Aber selbst das ist ein Problem, das Lutz Friedel zum Thema macht. Ärgerlich ist, das möchte ich betonen, dass bei allem Streit auf beiden Seiten weitgehend auf der Strecke bleibt, dass Lutz Friedel ein ausgezeichneter Künstler ist. Handwerk und sicherlich auch kritisches Denken hat er nicht zuletzt bei Bernhard Heisig gelernt. Das Gute wie das Böse sind nicht irgendwo außerhalb von uns. Sie sind in uns und entstehen durch Beziehungen, durch ins Verhältnis setzen mit anderen Menschen und Ereignissen.
Zu empfehlen sind in diesem Zusammenhang das Buch von Susan Neiman „Das Böse denken“ (Suhrkamp Verlag 2004) und Baruch Spinoza, vor allem das Kapitel „Was gut und schlecht ist“ aus seinem Werk „Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück“ oder gleich sein im Jahre 1677 posthum erschienenes Hauptwerk „Ethik“. Spinoza ist auch deshalb zu empfehlen, weil er zur eingehenden Behandlung im Gegensatz zu Immanuel Kant von Susan Neiman in ihrem Buch nicht ausgewählt wurde. Das ist überhaupt nicht schlimm, für unseren Gegenstand ist allerdings der Unterschied, der mitunter als Gegensatz daherkommt, zwischen normativer Ethik (Kant) und nicht-normativer Ethik (Spinoza) von Bedeutung. Sehr grob vereinfacht geht es beim Normativen darum, dass durch Vernunft oder „Beschluss“ Soll-Sätze für die Ausrichtung eines angemessenen Denkens und Lebens gelten sollen. Das Gute wie das Böse seien Äußerliches, so dass jeder Mensch vor der Entscheidung stünde, was er in sich lässt und was nicht. Im Nicht-Normativen wird weitgehend der Mensch genommen wie er ist, gut und böse gehören zum Menschsein. Dieses Konzept beinhaltet weiterhin, dass durch Bildung und Vernunft Affekte wie Hass, Rache, Habgier oder übersteigerter Ehrgeiz so beherrschbar werden, dass sie ein gutes Leben auch mit anderen Menschen ermöglichen. Ausgangspunkt ist aber keine ideale Konstruktion des guten Menschen, der logischerweise ständig in Sünde fallen muss, wenn er in einer niemals perfekten Gesellschaft intensiv zu leben anfängt, sondern das Problem Mensch – als Selbstverständlichkeit, womit umzugehen zu lernen ist.
Von dieser Sicht auf die Einzelpersönlichkeit nicht loszulösen ist die gesellschaftliche Dimension, wie bereits erwähnt. Wer im Entweder-Oder befangen bleibt, bewegt sich, wie Søren Kierkegaard meint, im Bereich des Ethischen. Damit sei allerdings die Dimension des Ästhetischen noch nicht erfasst. Darum ginge es aber, um beständig daran zu arbeiten, in Freude leben zu können. Ironie und Dialektik sind die Stichworte, um Selbstbewusstsein und persönliche Freiheit im Denken wie im Sein einzuüben. Lutz Friedel, so scheint mir, ist ein Meister im Anwenden dieses Prinzips. Ironie meint dabei, wie bei Kierkegaard auch, mehr als sich lustig zu machen über Einzelne. Ironie ist in diesem Zusammenhang kritisches Denken. Kritisches Denken wiederum ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine funktionierende – besser gesagt: gelebte – Demokratie.
Dass Friedel auch dem Entweder-Oder bei der Frage, ob nun normative Ethik im Sinne des oft nicht ganz richtig verstandenen Kant oder nicht-normative Ethik im Sinne Spinozas einzig zu gelten habe, ausweicht, sorgt genau dafür, dass er mit seinen Werken „Ich selbst als…“ dicht am Problem unberechenbarer menschlicher Denk- und Verhaltensweisen dran ist. So ist das richtige Leben, nicht so, wie in in Stein gemeißelten Soll-Sätzen von der Obrigkeit oder einer abstrakten Moral gewünscht. Kunst und Philosophie sind gemeinsam der Urtrieb des Zweifels an der bloßen Meinung (Doxa). Ein bisschen davon können die Abgeordneten und ihr neues Haus gut vertragen.

Dr. phil. Gerd-Rüdiger Hoffmann, Philosoph und Kulturpolitiker, ist Abgeordneter des brandenburgischen Landtages (fraktionslos) und Mitglied im Ausschuss für Wissenschaft, Forschung und Kultur.