16. Jahrgang | Nummer 25 | 9. Dezember 2013

Lampedusa – mehr als ein Trauerfall

von Ulrich Scharfenorth

Sie steht seit Jahrzehnten vor unserer Haustür. Und ebenso lange wird sie von den Mächtigen dieser Welt ignoriert oder unter den Tisch gekehrt: die Migration, die Wanderung Einzelner, die Wanderung von Familien, ja ganzer Völker – weg aus der Not, weg von Hunger und Krieg.
Menschen fliehen, Menschen nehmen jede Mühsal in Kauf und werfen sogar ihr Leben in die Waagschale – wenn irgendwer eine bessere Zukunft, zumindest aber die Rettung des eigenen Lebens in Aussicht stellt. Ziel der Flüchtlinge ist immer ein Land/ein Staatenverbund, das/der Wohlstand verheißt. Immer wieder ist das reiche Europa gemeint – ein Kontinent, der maßgeblich für die Verwerfungen in der Welt verantwortlich ist, das aber nur ungern zur Kenntnis nimmt. Wenn heute Tausende von Flüchtlingen an die Außengrenzen der EU stoßen, heißt die Antwort Frontex. Heißt die Antwort Abwehr – auch um den Preis von Toten und Verletzten. Es bedurfte einer größeren Katastrophe, um diese Sachlage wieder einmal ins Bewusstsein zurück zu rufen. Auf dem Weg nach Lampedusa ertranken 300 Flüchtlinge – seit 1983 sind es bereits 19.000, die dieses Schicksal teilen. Ein Horrorszenario, das niemand mit dem offiziellen Werteverständnis Europas überein bringen kann. Immerhin hätte ein Großteil der Menschen gerettet werden können – gäbe es denn eine humanere Gesetzeslage und mehr Empathie auf dem Meer. Eben das aber steht in Brüssel nicht auf der Agenda. Im Gegenteil: Es entsteht der Eindruck, dass eine bewusst in Kauf genommene Schocksituation ausstrahlen und künftige Migranten davon abhalten soll, die gleiche (Flucht-)Entscheidung zu treffen.
Wie immer, wenn im reichen Westen etwas gründlich anbrennt, bemüht man sich um Löschung und Herdreinigung, immer weniger aber darum, Brandursache und -beschleunigung aufzuzeigen und dauerhaft auszuschließen, sprich: die Wurzeln des Übels zu tilgen. In Sachen Migration läuft das ebenso. Statt Vorkehrungen zu treffen, damit Asylsuchende künftig in ihren Heimatländern bleiben, setzt man auf die scheinbar preiswertere Variante: robuste Abwehr. Diesen Vorwurf freilich wollen die in der Wagenburg Befindlichen nicht gelten lassen. Eiligst schmieden sie eine neue Verordnung zur Errichtung eines Europäischen Grenzüberwachungssystems (EUROSUR), mit der sie allerdings wiederum nichts richten können. Denn die Bedingungen für Krieg, Not, Leid und Reichtum haben sich per Text nicht verändert. Da mutet es heuchlerisch an, wenn man in Absatz 11 der zugehörigen Satzung beschwörende Sätze über Menschenrechte, das Recht auf Asyl liest, die quasi als ethisches Feigenblatt in einen diametral entgegen gesetzten Kontext stehen: Lieber Flüchtling, ich achte Deine Würde und Rechte, aber hau … endlich ab!
Um es kurz zu sagen: Frontex und Eurosur sind und bleiben Unterdrückungsmechanismen. Sie schützen nicht, sie verletzen Menschenrechte.
Neben engagierten Bürgern tummeln sich viele in diesem aus Not, wirklicher und verlogener Menschenfreundlichkeit, Politiker-Panik und brutalem Ertränken geprägten Gemenge. Da versucht man die kleine Streicheleinheit, das herzliche Beileid für Kofi, dessen Leiche verschollen ist, da ruft man gar die Patrouillenboote der EU dazu auf, in Seenot geratene Flüchtlinge schneller aufzuspüren, aufzunehmen und an Land zu bringen – wo doch deren unausgesprochener Befehl ganz anders lautet. Nämlich: aufspüren, aufnehmen und unbesehen am Ausgangspunkt der Seereise wieder absetzen. Da appelliert man ernsthaft für ein offenes, gefahrfreies Eintritttor nach Europa – ein Tor, das allen offen stehen soll, vorausgesetzt, sie können nachweisen, dass sie in Not sind. In Not sind sie allemal, denn ob zurückgewiesen oder auf Lampedusa ins Lager gepfercht – sie sind der Willkür derer ausgeliefert, auf die sie – erst früher, dann später – stoßen. Der Schlepper wird sie nicht erneut auf klapprige Kähne vermitteln, denn das Geld ist alle. Die italienischen Behörden werden sie erneut ausweisen, so sich denn auch nur der Verdacht auf Wirtschaftsflucht andeutet. Dieser Tatsache müssen wir – ob wir das wollen oder nicht – Rechnung tragen. Besagtes Eintrittstor wäre auch nur eine Lösung auf Zeit. Sie stünde Europa gut zu Gesicht, müsste aber, sobald die damit stimulierte Fluchtbewegung Maß und Kassen sprengt, annulliert werden. Mit Folgen, die sich jeder ausmalen kann.
Nur Kriegsflüchtlinge haben eine Chance, irgendwo in Europa anzukommen. Wenngleich der beschämende Streit über Verteilung und Aufnahmequoten auch hier Bremsspuren erzeugt. Einmal aufgenommen, landen die Betroffenen in Aufnahmelagern – warten auf das  Asylverfahren – ohne Jobs, aber rundum versorgt und beargwöhnt von denen, die diese Lager als Keimzelle für Diebstahl und Verbrechen verorten. Stecken die Flüchtlinge dann ihre Köpfe aus den Fenstern, dann fliegen ihnen freundliche Worte entgegen: Go home blacky, Sozialschmarotzer …
Bis vor zwei Jahren hatte der Westen Gaddafi für seine „Migrationspolitik“ eingespannt. Der hatte Lager errichtet, in denen Flüchtlinge aus ganz Afrika aufgenommen, versorgt und mäßig stimuliert zur Rückkehr in ihr Stammland aufgerufen wurden. Diese Sache funktionierte schlecht, aber gab den Puffer, der die Einwanderung abschwächte. Jetzt ist Gaddafi umgebracht, und nicht nur Libyens Küste ein Hort der Scharia. Dort wird niemand mehr aufgefangen.
Für den Laien ist die Situation verworren. Medien und Regierungen schütten ihn zu mit Schreckensmeldungen aller Couleur. Vor allem hofft man, ihm beibringen zu können, dass Migration so etwas ist wie Naturkatastrophe – hereingebrochen, kaum zu beeinflussen und niemals abzufangen. Nähme man Millionen auf – so heißt es – ginge unser Wohlstand den Bach runter. Die Lage werde auch deshalb schwieriger, weil obsolete Regimes weder Wirtschaft noch Menschenrechte in den Griff bekämen und ständig Kriege anzettelten. Hinzu kämen klimatische Desaster, derer man sowieso nicht Herr werden könne.
Ein Konzept, dass die Fluchtbewegungen „menschenrechtskonform“ eindämmen könnte, gibt es nicht. Folglich wird gewartet und – wenn notwendig – sporadisch reagiert. Doch wie lange funktioniert so etwas?
Bevor die Katastrophe eintritt, bevor aus den Wagenburgen auch noch geschossen wird, haben die Welt-Wagenlenker die Chance nachzudenken. Das trifft vor allem auf den Westen zu. Er hat spätestens seit Leopold II. überall auf der Welt abgeräumt, hat sich Menschen und Rohstoffe angeeignet, Kunstschätze gestohlen und Ländergrenzen markiert, die imperiale Begehrlichkeiten spiegelten, aber jeder ethnischen und damit menschlichen Zuordnung Hohn sprachen. Jetzt wäre es an der Zeit, die „Steuer“ für dieses Treiben zu entrichten. Fragt sich, ob ein derartiger Gedanke auch nur ansatzweise gedeihen könnte.
Klar ist, dass kein europäischer Politiker – auf sich gestellt – eine solche Überlegung anstellen, geschweige denn der Öffentlichkeit präsentieren wird. Obwohl ein „Marshallplan für die Armen“ die einzig brauchbare Lösung für das Migrationsproblem darstellt. Man muss erreichen, dass potentielle Flüchtlinge dort bleiben, wo sie derzeit leben. Das allerdings setzt voraus, dass sie vor Ort menschenwürdig existieren können, sprich: dass ihnen eine ausreichende Lebensgrundlage und Frieden gesichert werden.
Es bedarf folglich einer immensen gemeinsamen und über lange Zeiträume vereinbarten Anstrengung der wirtschaftlich starken Länder dieser Erde. Sie müssten die bestehende Entwicklungshilfe so umfunktionieren, dass sie zu einer wirklichen Hilfe für die Armen dieser Welt wird. Kein Bargeld an Potentaten, sondern an Treuhänder, Kapitalverkehrskontrollen, Verbot des Freihandels in den betroffenen Ländern, kostenlose Wissensvermittlung, Stimulierung des Wachstums vor Ort durch Hilfe zur Selbsthilfe – das sind Begriffe, die mir an dieser Stelle einfallen.