15. Jahrgang | Nummer 13 | 25. Juni 2012

Gänsehaut. Nachrichten aus der Debattiermaschine (XIV)

von Eckhard Mieder

Als Kind in einer Fleisch fressenden Familie entkommst du dem Gänsebraten zu Weihnachten nicht. Den gab es schon, als wir noch sonst im Jahr die Rinde der Birke essen und Wasser aus der schaumbedeckten Mulde bei Dessau trinken mussten, um satt zu werden. „Eine jut jebratne Jans is ne jute Jabe Jottes“, hieß es selbst im heidnischen Elternhaus. Und wenn die Gans auf dem Tisch stand, dann war auch die Gänsehaut von vor Stunden vergessen. Dieses schaurige Leichen-Weiss. Diese Warz-Pickel. Diese Storr-Haare. Dass aus so etwas Widerwärtigem etwas so Schönes und Schmackhaftes werden konnte, war ein Wunder, das Mutti vollbrachte, und machte mehr Hoffnung als Jesu’ Geburt.
Neuerdings holt mich die Gänsehaut täglich und übers ganze Jahr ein. Sie ist quasi übers Land gespannt. Nicht als ein Rettungsschirm oder -schild, sondern als Ausdruck höchster Erregung. Alles ist „Gänsehaut“. Alles macht „Gänsehaut“. Es herrscht „Gänsehaut-Feeling“ in Deutschland.
Ein Juror, der zur Beurteilung der gesanglichen Qualität eines sechzehnjährigen Würstchens während eines TV-Castings nicht sagt: „Du hast mir echt eine Gänsehaut gemacht“, gehört abgeführt. Erstens lügt er organisch; aus Menschenhaut kann keine Gänsehaut gemacht werden. Zum zweiten lügt er sowieso; er täuscht eine Begeisterung vor, die er nicht hat. Oder, drittens und gar nicht so unwahrscheinlich: Er verfügt nicht über die Wörter, seiner Bewertung eine gewisse Relevanz zu geben. Dieter Bohlen etwa kann das. Ihm geht etwas am Arsch, auch eine Haut-Gegend, vorbei oder nicht.
Ein Sportler, der nach seinen Gefühlen nach einem Sieg gefragt wird oder nach dem Gefühl, das ihn erfasste, als er die tosende Arena betrat, bekam – natürlich – „Gänsehaut“. Manche sagen auch „geile Gänsehaut“. Das finde ich in Ordnung, wenn ich die nicht sehen muss. Das ist wie mit der Weichnachtsgans: gebräunt schaut’s gut aus. Die meisten Sportler bewegen sich ohnehin in ihren knappen Kostümen wie Pornodarsteller in Aufwärmphase. Und allemal lieber schaue ich mir die trainierten Leiber in den Stadien an als die dekolletierten Leiber in den Stadien des Zerfalls auf Roten Teppichen.
Wenn’s ganz geballt kommt, herrscht „Gänsehaut-Feeling“. Ob vor der „Begeisterungswand“ im Biathlonstadion von Ruhpolding. Ob vor dem Brandenburger Tor, wenn alte und junge Rockstars tirilieren. Ob bei der Hochzeit irgendwelcher Royals. Wie ist das bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth? Herrscht da auch „Gänsehaut-Feeling“? Oder handelt es sich tatsächlich bei den dargebotenen Promi-Häuten um jene „vom vegetativen Nervensystem gesteuerte Kontraktion des Haarbalgmuskels, so dass sich der Haarfollikel über die Hautoberfläche erhebt und sich das Haar aufrichtet (medizinischer Fachbegriff Piloerektion)“ (Wikipedia)? Frau zittert vor Angst, Erregung oder Kälte. Beim Mann sieht man’s nicht so, er ist zugeknöpfter.
Apropos Wagner und Philoerektion. Wenn Sportreporter ins Tremolieren geraten, dann wird auch mal von einer „Eruption“ gesungen, welche die Zuschauer unter den Füssen spüren. Als Zuhörer bin ich froh, dass sie immerhin nicht „Erektion“ sagen. Eine Verwechslung, die bei Kultur- oder Event-Reportern „vor Ort“ niemals vorkommen wird. Die haben zwar auch eine Gänsehaut und eine Eruption im Kopf, aber „Feeling“ ist kein Kultur-Deutsch. Obwohl sie sonst nicht zimperlich sind bei der Verwendung englischer Redewendungen, die sie gern in Feuilletons unterbringen und damit nachweisen, dass sie mindestens mal ein Jahr in Großbritannien oder in den USA verbracht haben.
1981 löste sich eine Band auf, die „Gänsehaut“ hieß. Das habe ich aus dem Internet. Die Band-Mitglieder sind in meinem Alter, trotzdem habe ich, bis auf ein Lied, nie etwas von ihnen gehört. Dieses Lied heißt „Karl der Käfer“. Karl ist ein Käfer, dessen friedfertiges Leben eines Tages zerstört wird, weil lärmende Maschinen seinen Lebensraum zerstören. „Dort wo Karl einmal zu Hause war, fahr’n jetzt Käfer aus Blech und Stahl.“
Sind wir meisten Menschen nicht solche Karls? Wenn wir Glück haben, werden wir nicht aus unserem Lebens-Raum vertrieben. Aber Käfer aus Sprach-Müll überfahren uns immerzu.  Doch sei nicht traurig, guter Mann,/es blühet doch das Vaterland!/Weil es geschützt wird jederzeit:/Es ist von Gänsehaut überspannt.