14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Querbeet (I)

von Reinhard Wengierek

„Querbeet“ ist die Losung, der ich folge. Dabei gellt mir noch immer ein Warnschrei tief im Ohr: „Kinder, nicht über Beete latschen!!“ Längst vorbei. Doch es geht ja hier nicht ums Bravsein, um Blümchen oder Gurken, sondern um Kulturen im Kunstgestrüpp, durch das ich fortan hopse in loser Folge. Immer mit Notizblock im Schädel. Ein Sammelsurium bekritzelter Blättchen – für die Unterhaltungsecke im Blättchen.
Vorhang auf für die Premiere ausgerechnet am Tag der Einheit. Und mit krachendem Tuuuuut: geblasen sinnigerweise auf einer Deutschen Posaune. Der Herr Sattler zu Leipzig erfand sie anno 1841. Ein Blechding mit größerem Schallbecher und dickerem Rohr. Beides machte einen neuartig „dunkel romantischen Klang“. Sowie Weltkarriere. Überall tutet man heute dunkel romantisch.
Sattlers Original funkelt in der mit Selten- und Seltsamkeiten vollgestopften Musikalien-Remise vom Leipziger Grassi. Das Museum gilt als wuchtiges Tor zum „Buchviertel“ – einst die Herzkammer deutscher Buchherstellung, dann zerstört in Kriegs-, später in Teilungs- und Nachwendezeiten. Das Grassi ist ein üppiger Hort von Preziosen der Kunst wie des Handwerks, eine Frucht global tätigen Händlerfleißes. Und generöser Bürgerstolz stiftete ihm ein herrliches Gehäuse. Jetzt erstand es mit viel Geld und Geschmack wieder aus jahrzehntelanger Verwahrlosung. Grassi glänzt! Doch es ist leider ein klein wenig, aber zehn Fußwegminuten zuviel um die Ecke gelegen. So glänzt es nicht mit Besucherströmen, und der Feingeist hat seine tolle Eremitage.
Davon das Gegenteil: der Zoo. Neuerdings eine besonders massentaugliche Einrichtung für alle, die das Tuuuuten mögen und das Brüllen dazu: Denn inmitten der Gehege reckt sich die jüngste Attraktion: Eine mit exotischem Getier bestückte Riesenglashalle für Safari-Gefühle wie in echt.
Seit kurzem ist überhaupt allerhand riesig in dieser Stadt: Der bauliche Verfall an dessen Rändern; das Einkaufs-Center mit Gleisanschluss am Hauptbahnhof; die rohbaufertige Monster-Shoppingmall am Brühl, die partout kein Plätzchen hergibt für eine Gedenknische dort, wo Richard Wagners Geburtshaus stand. Eine fahrige Kommunalpolitik will einfach nicht kapieren, dass die Stadt als Bach-Zentrale noch das Zeug hat zum Wagner-Wallfahrtsort und lässt obendrein ihr frisch fein saniertes, festspieltaugliches Opernhaus fad dahin dümpeln. Sie klotzt stattdessen lieber mit spektakulären Großprojekten: Etwa der neuen Riesenhaltestelle im Ex-Untergrundmessehaus am Markt für die monströse DB-City-Tunneltrasse. Oder dem postmodern-kirchengotischen Audimax der Uni genau da, wo einst ein Karl Marx mit gusseiserner Wachsamkeit die Pforte hütete – ein künftiger Hallraum für unsere Posaune, dunkel romantisch.
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Das Gegenteil davon heißt Mario Barth. Als „Live-Comedian mit den meisten Zuschauern“ schaffte er es längst ins Guiness-Buch der Rekorde. Und zweimal schon hat die quotenkönigliche Großschnauze des Privatfernsehens das Berliner Olympiastadion gefüllt. Abertausende kamen, um seinen zartsinnigen Gender-Studies zu lauschen: Motto „Weeßte, meine Freundin“; oder: „Kennste, wir Männer“. Auch ließ sich der TV-Scherzkeks den bierseligen Kalauer patentamtlich schützen: „Nichts reimt sich auf Uschi…“ Tja, so was schafft volle Stadien. Davon können die solidesten wie verrücktesten Stadttheater-Intendanten nur träumen. Selbst der grundsolide Papst mit seinen ziemlich verrückt aus der Gegenwart fallenden Ansichten hat sich zunächst nicht denken können, wie Macho-Mario mit seinem Auftritt die größte Arena der Hauptstadt zu füllen… Da fielen die schlappen viertausend Leute mit ihrem Stoß in die Posaune nicht störend ins Gebet: Die tapfere Minderheit unterschrieb eine Petition, in der die Hochzeit von Ernie und Bert gefordert wird. Die Homo-Ehe in der „Sesamstraße“ soll dem schwul-lesbischen Nachwuchs Mut machen in der Schlacht gegen das Mobbing auf den Schulhöfen.
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Um noch bisschen jenseits des Bauchnabels zu nesteln: Der Regisseur Hans Neuenfels, ja jener, der im jüngsten Bayreuther „Lohengrin“ das Volk von Brabant als Heer von Labormäusen wuseln ließ, also diese Alt-Avantgarde-Berühmtheit (feierte gerade seinen 70.!) posaunt in seiner echt lesenswerten, wahrlich romanesken Autobiografie „Bastardbuch“ (Bertelsmann) eine bemerkenswerte Intimität in die Welt: nämlich wie er zu seinem Beruf fand. Und das ging so: Er beobachtete einst in seiner Essener Studentenbude, wie zwei nackte Kerle, die sich soeben bei seiner als Hure werkelnden Zimmerwirtin erleichtert hatten, in seliger Erinnerung daran onanierten. Da entdeckte er als schwitzender Voyeur den Regisseur in sich. „Weil das Nacherlebte eines Geschehnisses ebenso stark zu werden imstande war, wie das Geschehnis selbst und es sich sogar übertrug.“ Vertrackte Dialektik zwischen Leben und Kunst!
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Nun ein kulturell korrekter Sprung ins zumindest touristisch multikulti schillernde Berlin-Kreuzberg. Ins Ballhaus Naunynstraße, einen deutsch-türkischen Off-Betrieb, der sich als „postmigrantisches Theater“ pittoresk etablierte in einem schick hergerichteten Hinterhof-Vergnügungsetablissement der Gründerzeit. Es dauerte nicht lange, und das rührige, eher soziokulturell dahin werkelnde Unternehmen mit erfreulich zunehmenden Migrationshintergründen fand das seltene Glück des großen Knallers. Den Hit, der mit einem Schlag den Ruhm, die Quote, das Fördergeld einschwemmt. Es war „Verrücktes Blut“, das nach dem berüchtigten Rütli-Schulskandal herauskam und über Nacht emporschnellte vom kiezigen Geheimtipp zum Muss für jeden Staatstheater-Intendanten.
„Verrücktes Blut“ ist ein groteskes Stück über eine an militanten Migrantengören verzweifelnde Lehrerin, die kurzerhand den Spieß umdreht: Sie entwendet einem rasenden Jungtürken die Knarre und hält mit dem Schießeisen in der Zitterhand ihre Schulklasse in Schach, um dieser endlich in Ruhe Schiller beibringen zu können. Schockpädagogik auch fürs Publikum. Das Stück der Stunde; intelligent, witzig, mutig, provokant und überzeugend auch ästhetisch – also wirkend über die Stunde hinaus.
Sensationserfolge sind super, aber schwer zu wiederholen. Auch setzen sie Maßstäbe, die gehalten sein wollen – was unseren Ballhäuslern schwer fällt. Zwar stets hell wach, hoch avanciert, sozialpolitisch engagiert und fleißig, trudeln sie in der alltäglichen Praxis häufig in die Niederungen des bloß Gutgemeinten, Halbgaren, Halblaienhaften. Wie jetzt wieder mit „Perikizi“, der schlichten Adaption des fulminanten Romans von Emine Özdamar. Da wird auf polternd clowneske, grob surreal-groteske Art mit viel Trallala und Hopsassa eine traurig-komische Odyssee erzählt: Kleines türkisches Dorfmädchen will nach Europa, um dort Schauspielerin zu werden. Wird sie nicht. Aber sie lernt einiges, derweil sich Elmira Bahrami schülertheaterhaft durch Michael Ronens wild wabernde Regieeinfälle wühlt. Also durch Trash, Folklore, Kitsch.
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Zum Schluss ein Wutschrei: Woody Allens bejubelter Film „Midnight in Paris“ ist kein Edelkunstwerk, sondern süßlicher Nostalgiekitsch aus Hochglanz-Klischeebildchen vom Alten Europa. Die würde der emsige Spesenritter demnächst gern auch aus Berlin liefern. Wenn sie ihm fett finanziert würden vom Steuerzahler.
Mit „Küsst euch mal!“ firmiert ein taffes Berliner Grafikstudio. Also los! – Bis zum nächsten Querbeet.