14. Jahrgang | Nummer 14 | 11. Juli 2011

Ein Doppeltusch für Dieter Mann und Otto Sander

von Reinhard Wengierek

Verbeugung, Fanfare, Blümchen! Zwei Berliner Sehenswürdigkeiten, zwei Legenden des einst ost-west-geteilten deutschen Theater- und Filmbetriebs wurden 70: Gratulation den Schauspielern Dieter Mann und Otto Sander!

Gegen Weltverkleinerung: Dieter Mann
Ein verführerischer Schlaks in Lederjacke. Mit unverschämt breitem Grinsen. Mit steiler Zornesfalte auf der allem Schmutz dieser Welt Paroli bietenden Jungmänner-Stirn. Das war Dieter Manns Debüt 1964 am Deutschem Theater Berlin (DT). So war sein Wolodja in „Unterwegs“ von Victor Rosow: Eine bittersüße Liebesromanze – mit der bezaubernd störrischen, berückend hingebungsvollen Christine Schorn. Ein Selbstfindungsstück aus der Sowjetunion. Für damalige Theaterzeiten ziemlich realistisch, mithin konfliktgeladen, aufsehenerregend – auch durch die drastisch zugespitzte Übersetzung von Inge Müller. Ja, es war ein Hammer, der Hammer damals: Ungestüme Jugend im Aufbruch und Aufruhr. Die Schorn und der Mann, beide Frischlinge von der Schauspielschule Schöneweide (später: Ernst-Busch-Hochschule Berlin): Sie wurden gefeiert als Nachfahren von Romeo und Julia, als hochfliegende Träumer, die unsanft landeten auf dem harten Boden realsozialistischer Tatsachen.
Acht Jahre später, wieder im DT (Mann wird nahezu sein ganzes sagenhaftes Berufsleben dort bleiben). Und wieder in Lederjacke – und in „echten“ Jeans: Denn die waren für Edgar Wibeau in Ulrich Plenzdorfs „Die neuen Leiden des jungen W.“ (auch ein Selbstfindungsstück) keine Beinkleider, sondern eine Einstellung. Also eine äußerst krasse Provokation in Levis-freier Zone, mit der dieser Aussteiger in der Gartenlaube – ein störrisch Empfindsamer, ein früher grüner Autonomer – sich prompt die hohe harte Stirn blutig und das weiche Herz wundschlug. Dieter Mann machte diese Figur zur „von oben“ zutiefst beargwöhnten Indentifikationsfigur nicht nur jugendlicher DDR-Bürger. Und wurde zum Star des Deutschen Theaters.
Dass er dann zwei Jahre später als steppender und alle Weiber kirre flirtender Kellner Jean in der Kaiser-Spolianski-Revue „Zwei Krawatten“ auch als aasiger Elegant in Frack und Zylinder Entertainment-Furor machte, das erhob ihn zum Superstar. Seither, so darf man ungeniert behaupten, ist Dieter Mann absolut Kult.
Freilich, auf solch flotte Etiketten dürfte dieser, wie es heutzutage heißt, total coole Schauspieler pfeifen. Er weiß auch so um seinen einzigartigen Wert: Ist der Perfektionist doch einer der wenigen, die noch wirklich sprechen können, ohne dass es „gesprochen“ wirkt; einer der wenigen, die frei von jeder Aufdringlichkeit jeden Laut, jede Silbe, jede Endung abschmecken und auskosten – also kurz: die Texte (vor allem schwierig klassische) verständlich machen. Einerseits rein akustisch, anderseits – und das vor allem – bezüglich ihrer (hoffentlich) vielschichtigen Bedeutung. Präziser Dienst am Text. Die „persönlichen Befindlichkeiten“ so mancher Regisseure kontert Mann, der niemals scharf war auf den Spielmeister-Posten, schlicht mit Goethe: „Wenn ich die Meinung eines anderen anhören soll, muss es positiv ausgesprochen werden. Problematisches habe ich in mir selbst genug.“
Dieter Manns hohe Sprechkunst (Begabung plus hartes Training des aus Berlins proletarischem Milieu Stammenden) ist das eine. Das andere ist sein Spieltrieb – ganz aus dem Bauch. Sind seine geistige und körperliche Agilität; sein Charisma bis in die Fingerspitzen; seine schier sensationelle Präsenz (nicht nur auf der Bühne) sowie seine doch stets vom Kopf her disziplinierte Verwandlungskunst. Deshalb waltet in allen seinen Figuren jene feine, gern ironiedurchwehte Distanz. Deshalb aber auch sein scheinbar beiläufiges Insistieren auf den tragischen Punkt – oder das tragische Pünktchen – einer jeden Rolle. Es waren, neben ungezählten Film- und Fernsehaufgaben, in gut vier Jahrzehnten mehr als 60 am DT, seinem erklärten Zuhause.
Zur Feier des Berufsjubiläums „40 Jahre DT“ im Herbst anno 2004 gab Mann sein Thomas-Mann-Solo „Fülle des Wohllauts“ aus dem „Zauberberg“; übrigens im kostbar konservativen, fein altmeisterlichen Raum von Bühnenbild-Großkönner Eberhard Keienburg. Eine unvergessliche Sternstunde des Theaters – inzwischen dummerweise längst aus dem Spielplan geräumt. Aber Achtung! Demnächst gibt es eine Wiederaufnahme des zauberischen Bravours, dieses gleißenden Virtuosenstücks im Potsdamer Schlosstheater im Neuen Palais.
Damals, zum besagt großen, sensationellen Theaterfest mit den beiden Manns (Dieter und Thomas), verneigte sich Gratulant Frank Castorf „in Demut“ vor seinem ehemaligen Chef (zwei Jahre später wurde Mann DT-Ehrenmitglied). Und zitierte bewusst altmodisch Schillers Worte vom heilig ernsten, tröstlichen Spiel der Kunst. Daraufhin beschwor Bernd Wilms, damals DT-Intendant und feinfühliger Vermittler zwischen Tradition und Innovation, den Ur-Hausherrn Max Reinhardt: Das Heil des Theaters komme allein vom Schauspieler. Anders gesagt: Es kommt nicht vom Regisseur.
Ja, doch: „ehemaliger Chef“, das stimmt. In der DDR-Endzeit bis zur von Dieter Mann energisch betriebenen Übernahme des Traditionsinstituts durch den ersten Nachwende-Intendanten Thomas Langhoff war Mann der erste Mann am Haus. Ein kluger, wenn es sein muss beinharter, auch irritierend scharfzüngiger Kapitän in schwer bewegter See. Ein raffiniert zwischen befohlener Linientreue und kreativer Untreue, kritischer Systemnähe und skeptischer Distanz Balancierender. Letztlich aber ging es ihm immer um ein Maximum an Wahrhaftigkeit – und die sie kunstvoll stützende Phantasie. Dafür holte er Castorf und Heiner Müller, ließ den altgedienten Friedo Solter weitermachen, gab dem aufstrebenden Neutöner Alexander Lang die Luft für seine sarkastisch tiefschürfenden Inszenierungen, die ihn schließlich berühmt machten.
Als Rolf Winkelgrund Paul Claudels gottsucherische „Mittagswende“ inszenierte (was Mann zuvor bei „der Behörde“ durchzusetzen hatte), lieferte ein seinerzeit tonangebender Theater-Professor im SED-Parteiblatt „Berliner Zeitung“ einen programmatisch gemeinten Verriss. Daraufhin stellte sich der Genosse Intendant ausgerechnet im CDU-Zentralorgan „Neue Zeit“ ostentativ und in gleichfalls programmatischer Absicht hinter seinen Regisseur: „Wir (nicht das Theater, sondern die Gesellschaft) haben die differenzierten Ansprüche und Bedürfnisse zu lange unterschätzt. Das Angebot des Theaters kann nicht reich genug sein. Ich habe etwas gegen Nivellierung und Gleichschaltung der Interessen. Ich hasse es, wenn uns jemand die Welt verkleinern will.“ – Anfang September 1989 noch eines der seltenen öffentlich ausgetragenen Gefechte des aufgeklärten Geistes mit dem allmächtigen Einpartei-Dogmatismus. Ein bemerkenswertes Eintreten für Pluralismus. Für die Freiheit der Kunst – wenigstens für die. Für die in Dieter Manns Verantwortungsbereich.
Als sich im Verlauf der neunziger Jahre am Planet Ex-DDR-Staatstheater eine schamlos unangemessene Larmoyanz bezüglich der fundamental veränderten Lage breit machte, reagierte der Ex-Intendant mit der ihm ohnehin eigenen nüchtern-ironischen, kühlen Gelassenheit. Und nutzte die neuen Verhältnisse zur Erweiterung seines Aktionskreises: spielte in Dresden, Hamburg, Wien – immer aber führende Rollen wie Wallenstein, Nathan, Lear. Gegenwärtig spielt er gar in der Berliner Volksbühne, für lange Zeit der ästhetische Gegenpol zum DT: Mit Sophie Rois in Castorfs grotesk-absurd verkasperter Inszenierung von Walter Mehrings „Kaufmann von Berlin“.
Man sieht: Der große alte Herr des deutschsprachigen Theaters hat noch viel drauf, noch fast alles. Wie so manche der besten Kollegen seiner Generation, die frevelhafterweise eher selten zum bewundernswerten Einsatz kommen. Doch das Publikum dürstet nach solch singulären Größen wie Dieter Mann. Er lebe hoch. Dreimal hoch!

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Zwischen Schmerz und Aberwitz: Otto Sander
„Natürlich bin ich Perfektionist“, gesteht er unumwunden. „Aber so, dass es keiner merkt.“ Schließlich sei nichts auf der Bühne, was nicht haargenau überlegt ist. Jeder dort tüftele wie besessen. Und bestenfalls sähe es dann so aus, als käme alles direkt vom Himmel, aus der Hölle, dem Herzen oder dem alles vereinnahmenden Bauch; spontan, ohne Denkerei. Sagt Otto Sander, der durch unzählige Rollen von winzig bis riesig in den Dingen des Lebens, des Theaters und Films höchst erfahrene Schauspieler.
Ein paar Jahre zuvor, beim Festessen zum 65. daheim in der Altcharlottenburger Vielraumwohnung mit Matjes und Zitronenhuhn, mit Ehefrau Monika, den Ziehkindern Ben und Meret Becker sowie allen Enkeln, da hatte er die Heimsuchung durch Krebs an der Speiseröhre gerade überstanden, rauchte längst nicht mehr, prostete locker mit Cola statt Champagner. Und kokettierte kess mit der Anekdote des amerikanischen Schauspielers W.C. Field, seinem Lieblingskollegen: „Man sollte immer eine kleine Flasche Whisky dabei haben, für den Fall eines Schlangenbisses; und außerdem immer eine Schlange.“ – Keine Angst, mit den Schlangenspielchen ist absolut Schluss, selige Paris-Bar-Zeiten sind längst perdu.
Nebenbei bemerkte unser Jubilar damals, er wolle so spielen, wie Picasso am Ende gemalt habe: „Nur noch ein Strich, und alle wissen, was er meint“. Pablo Picasso wurde 92. Da hat „olle Sander“, wie Berlin seine Sehenswürdigkeiten ans Herz zu drücken pflegt, noch allerhand Zeit.
Dabei kann er es ja – trotz abgebrochenen Germanistik- und Schauspielstudiums – längst schon so verdammt gut: Ein Strich, ein Punkt; ein Satz mit der abgründig-verführerisch knarzenden Stimme (seine Hörbücher ein Ohrenschmaus!). Dazu ein Zucken, ein Stirnrunzeln, ein Blick aus den groß fragenden, viel wissenden wässrig blauen Augen – und alle sehen klar.
Wie kaum einer hat Otto Sander die Souveränität des Weglassens. Die Gelassenheit, das kompliziert Menschliche einfach auf einen meist komischen, aberwitzigen oder äußerst schmerzlichen Punkt zu bringen. „Reduktion ist alles“, meint er. Der niemals kraftmeiert, nie viel macht, der eigentlich gar nichts „macht“. Und das macht alles.
Denken wir, es ist noch gar nicht lange her, an den verdrießlichen alten Krapp in Becketts selbstsucherischem Einsamkeitsmonolog „Das letzte Band“: Ein Todmüder begegnet sich und lauscht seinem (vom Band) sprechenden Ich von früher, als es anders, als es noch munterer war. Bei Sander bleibt da ein bloß winziger Rest Komik; ansonsten aber – zwischen raren Momenten zarter Glückserinnerung – erschütternd viel Trauer über die Vergänglichkeit und letztlich Vergeblichkeit des Daseins.
Oder denken wir an drei letzte große Rollen, bevor der Krebs einschlug: König Claudius („Hamlet“, Wien), Herr Jelke (Botho Strauß „Kuss des Vergessens“, Zürich), Hauptmann von Köpenick (Bochum). In diesem Dreier krasser Gegensätzlichkeit – Machtkerl, Liebhaber, Hochstapler – kommt wie auf einem Karussell der gebrochenen Typen das verschiedenartigst verrückt Menschennormale zusammen: Das Herrische, Eisige, Vulgäre und Aasige, das Schmuddelige und Vulgäre, das Zynisch-Sarkastische und Weinerliche, herzzerreißend Sentimentale und bitter, auch verbittert Resignierte – alles mit ein paar Strichen nur. Sanders irrlichternd lebensgierige, tapfer verzweifelnde, fein virile und zugleich entnervt übermüdete Figuren, aus welchem Daseinskreis auch immer: Sie hängen zwischen vielen Aggregatzuständen. Wie im richtigen Leben, was sie, selbst wenn sie bloß klein und flach im Text stehen, so tief macht, so groß und also poetisch.
Als Otto Sander inmitten kriegerischer Zeiten in Peine bei Hannover die (gutbürgerliche) Welt betrat (als Sohn eines Marineoffiziers), da tat er es mit roten Haaren. Sein Großvater beim Blick aufs Baby: „Das verwächst sich hoffentlich!“ Hat sich nicht. Vielmehr kamen noch der rote Schnauzer hinzu nebst „Fliegenschiss“, also Sommersprossen auf dünner weißer Haut. Und massenhaft Komplexe. Sanders frühe Frage: „Warum gucken die anderen so blöd?“ – Seine frühe Antwort: „Den Clown machen, verwegen auf die Kacke hauen.“ Aus diesem inneren Clinch des Loslegens mit dem Insichgekehrtsein, daraus wuchert die melancholische Grundierung seiner Kunst. Wie auch Sanders Sicht auf unsere Welt.
Als „geborener Außenseiter“, sagt Sander, habe er beständig über sich selbst nachgedacht. „Ich kannte von klein an diese Angst, dass ich nicht ankomme oder etwas falsch mache.“ War schließlich gut für den Beruf. Und für jemanden, der „etwas schief ins Leben gebaut“ sei, wie Ringelnatz von sich behauptete, einer von Sanders Brüdern im Geiste neben Fritz Kortner und Charlie Chaplin.
Freilich, dieser schlacksige Mann wusste nur zu gut um den Wert seiner „Schieflage“; selbst hartgesottene Produzenten stöhnen: Sanders Gagenforderungen sind exorbitant. Aber eben durch Können errungen. Sein lebenslang geschärftes Hinschauen aufs drinnen wie draußen, seine aus schwerer Scheu getriebene Widerstandsenergie – zugleich ein Erbteil der Mutter (keine roten Haare), einer „notorischen Gegen-den-Strom-Schwimmerin“ – aus all dem erwuchs Sanders Künstlerkapital: Der Urquell seiner scheinbar wie aus dem Ärmel geschüttelten Menschenherzeigekunst.
Dabei sei er „so deutsch wie nur sonst wer, und so entfernt davon wie kaum einer“. Sei „ein Gustaf Gründgens und ein Karl Valentin gleichzeitig“, schwärmt Wim Wenders. In dessen „Himmel über Berlin“-Film war Sander der unvergessliche, die Stadt und den Erdkreis zauberisch schützende Engel namens Cassiel.
Und Botho Strauß rühmt: Ohne „Freund Otto“ wären die verschroben schwermütigen, hellsichtig wankenden neuen Helden, die er in den Siebziger-, Achtzigerjahren für sein grandioses Berliner Schaubühnen-Theater erfand, „nicht zu denken gewesen“. Und seither, spätestens, wird er vom Publikum geliebt wie kaum einer: Als toller Trauerkloß, durchtriebener Schelm, erstaunter Schwerenöter. Ein Kauz und Luftikus – ein Komödiant.
Die Liebe des Regisseurs Klaus Michael Grüber aber ging so weit, dass er (Berlin anno 1974) bei einer Probe zu den „Bakchen“ innehielt und den sanft entschlummerten Sander getrost träumen ließ. Bis der, im Kostüm des Teiresias, verdutzt erwachte – nach einer geschlagenen Stunde. Selten war Verehrung demütiger als hier.