14. Jahrgang | Nummer 13 | 27. Juni 2011

Lügen in Zeiten des Krieges

von Axel Fair-Schulz, Potsdam., N.Y.

Nun haben wir es also ganz offiziell: Die US-Präsidenten Kennedy und Johnson haben das amerikanische Volk unverschämt belogen, als sie in den 1960er Jahren den Vietnam-Krieg eskalierten. Kritische Stimmen, die die Regierungspropaganda bezweifelten oder zumindest auf eine unabhängige Untersuchung bestanden, wurden damals – wie auch heute – marginalisiert und aus dem Mainstream verbannt. Die Watertown Daily Times, unsere Lokalzeitung hier im  Norden des US-Bundesstaates New York, druckte just in der Ausgabe vom 14. Juni 2011 einen dies belegenden Beitrag über die berühmten Pentagon Papers. Diese auf einer internen Untersuchung der US-Regierung über das Zusammenwirken von Pentagon, Department of State und CIA hinsichtlich der Vorbereitung und Eskalierung des Vietnamkrieges beruhende Untersuchung ist nun, über 40 Jahre später, der Öffentlichkeit vollständig zugänglich. Vom damaligen US-Verteidigungsminister Robert S. McNamara in Auftrag gegeben und 1969 fertiggestellt, offenbart diese Mammut-Studie, wie Regierungen von Kennedy und Johnson über Frieden und Menschenrechte schwadronierten und dabei unverfroren einen  Angriffskrieg vorbereiteten und schließlich führten.
Pikanterweise druckte die Watertown Times in genau derselben Ausgabe, in der wir von Regierungslügen der Vergangenheit lesen, einen Beitrag über den angeblich so selbstlos-humanitären NATO-Krieg gegen Gaddafis’ Regime in Libyen. Nun wird kaum ein seriöser Beobachter in Frage stellen, dass Gaddafis Regierung rechtsstaatlichen Kriterien nicht genügt. Erinnert sei nur an seine von der Europäischen Union begrüßten inhumanen Auffang- und Internierungslager für afrikanische Flüchtlinge auf ihrem zumeist lebensgefährlichen und vergeblichen Weg nach Europa. Doch bedeutet dies automatisch, dass die von der NATO mit massiven Militärschlägen unterstützten Gaddafi-Gegner ihrerseits rechtsstaatlichen Standards genügen werden, sollten sie den dortigen Bürgerkrieg gewinnen? Werden die von der NATO unterstützten Kräfte etwa Gaddafis neo-liberalen Wirtschaftskurs korrigieren und auf sozialen Ausgleich hinarbeiten? Stehen Namen wie Sarkozy, Berlusconi und leider auch Obama wirklich für eine progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik, die sie dann auch in Libyen unterstützen würden?
Die Geschichte westlich-militärischer Interventionen gibt mehr als nur Anlass zu Skepsis. Und wir sollten uns fragen, warum nicht nur die Watertown Daily Times, sondern die Leitmedien auf beiden Seiten des Atlantiks Regierungsbehauptungen über den angeblich humanitären Charakter des Militäreinsatzes kaum hinterfragen. Warum findet sich im sich unabhängig gebenden Spiegel oder in der ZEIT keine differenzierte Diskussion und Analyse der Lage in Libyen statt? Warum wird nicht nach den Ursprüngen, den Strukturen, den Zielen, der sozialen Zusammensetzung und vor allem der Finanzierung der Rebellengruppen gefragt?  Warum wird von der NATO der hauptsächlich aus Wendehälsen des Gaddafi-Regimes bestehende Nationale Übergangsrat als die einzig legitime offizielle Vertretung der Opposition angesehen? Haben die zumeist jugendlichen Demonstranten der ersten Stunden wirklich viel gemein mit Gaddafis davongelaufenen, schnell die Seiten wechselnden Generälen und Ministern? Der Vorsitzende dieses Nationalen Übergangsrates ist niemand anders als Gaddafis Justizminister Mustafa Abdud al-Dschelail. Bis vor kurzem hatte er die in vielerlei Hinsicht verbrecherische Politik des Despoten an sehr exponierter Stelle mitgetragen. Oder aber der Finanzminister des Übergangsrates: Hier handelt es sich um den seit Jahrzehnten in den USA lebenden neo-liberalen Wirtschaftsprofessor Ali Tarhouni, dessen CIA-Verbindungen ein offenen Geheimnis sind. Und nicht zu vergessen: Welche Politiker und Regierungschefs im NATO-Bereich erhoffen sich vom Bombenkrieg in Libyen ein schnelles „humanistisches“ Aufpolieren ihres arg ramponierten Ansehens und wer wird sich mit all den Kriegswaffen eine golden Nase verdienen?
Es wäre nun wirklich nicht das erste Mal, dass ein legitimer Volksaufstand durch die herrschenden Kräfte in sein Gegenteil umgekehrt wird. Denn die in Libyen „humanitär“ bombende NATO steht in anderen und mindestens ebenso repressiven Ländern der Region weiter hinter deren autoritären Regierungen. So hat beispielsweise Saudi Arabien grünes Licht erhalten, in Bahrein einzumarschieren, um den dortigen Volksaufstand brutal zu unterdrücken.
Solche und andere Fragen sollten von unseren Leitmedien gestellt werden. Statt dessen hören wir Regierungspropaganda. Wovon sollen wir durch die regierungsamtlichen sound bites und talking points abgelenkt werden?  Müssen wir – wie bei den Pentagon Papers – wieder 40 Jahre warten, bis uns reiner Wein eingeschenkt wird?